"Thomas Mann\n\nDer Tod in Venedig\n\n\n\n\nDie Texte folgen den Ausgaben:\n\n>Der Tod in Venedig< aus\n\nMünchen, Hyperionverlag Hans von Weber 1912\n\n\n\n\n\n\nErstes Kapitel\n\n\nGustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten\nGeburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem\nFrühlingsnachmittag des Jahres 19.., das unserem Kontinent monatelang\neine so gefahrdrohende Miene zeigte, von seiner Wohnung in der\nPrinz-Regentenstraße zu München aus, allein einen weiteren Spaziergang\nunternommen. Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben\njetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und\nGenauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden,\nhatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden\nTriebwerks in seinem Innern, jenem »motus animi continuus«, worin\nnach Cicero das Wesen der Beredsamkeit besteht, auch nach der\nMittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun vermocht und den entlastenden\nSchlummer nicht gefunden, der ihm, bei zunehmender Abnutzbarkeit\nseiner Kräfte, einmal untertags so nötig war. So hatte er bald nach\ndem Tee das Freie gesucht, in der Hoffnung, daß Luft und Bewegung ihn\nwieder herstellen und ihm zu einem ersprießlichen Abend verhelfen\nwürden.\n\nEs war Anfang Mai und, nach naßkalten Wochen, ein falscher Hochsommer\neingefallen. Der Englische Garten, obgleich nur erst zart belaubt,\nwar dumpfig wie im August und in der Nähe der Stadt voller Wagen und\nSpaziergänger gewesen. Beim Aumeister, wohin stillere und stillere\nWege ihn geführt, hatte Aschenbach eine kleine Weile den volkstümlich\nbelebten Wirtsgarten überblickt, an dessen Rande einige Droschken und\nEquipagen hielten, hatte von dort bei sinkender Sonne seinen Heimweg\naußerhalb des Parks über die offene Flur genommen und erwartete, da er\nsich müde fühlte und über Föhring Gewitter drohte, am Nördlichen\nFriedhof die Tram, die ihn in gerader Linie zur Stadt zurückbringen\nsollte. Zufällig fand er den Halteplatz und seine Umgebung von\nMenschen leer. Weder auf der gepflasterten Ungererstraße, deren\nSchienengeleise sich einsam gleißend gegen Schwabing erstreckten,\nnoch auf der Föhringer Chaussee war ein Fuhrwerk zu sehen;\nhinter den Zäunen der Steinmetzereien, wo zu Kauf stehende Kreuze,\nGedächtnistafeln und Monumente ein zweites, unbehaustes Gräberfeld\nbilden, regte sich nichts, und das byzantinische Bauwerk der\nAussegnungshalle gegenüber lag schweigend im Abglanz des scheidenden\nTages. Ihre Stirnseite, mit griechischen Kreuzen und hieratischen\nSchildereien in lichten Farben geschmückt, weist überdies symmetrisch\nangeordnete Inschriften in Goldlettern auf, ausgewählte, das\njenseitige Leben betreffende Schriftworte wie etwa: »Sie gehen ein in\ndie Wohnung Gottes« oder: »Das ewige Licht leuchte ihnen«; und der\nWartende hatte während einiger Minuten eine ernste Zerstreuung darin\ngefunden, die Formeln abzulesen und sein geistiges Auge in ihrer\ndurchscheinenden Mystik sich verlieren zu lassen, als er, aus seinen\nTräumereien zurückkehrend, im Portikus, oberhalb der beiden\napokalyptischen Tiere, welche die Freitreppe bewachen, einen Mann\nbemerkte, dessen nicht ganz gewöhnliche Erscheinung seinen Gedanken\neine völlig andere Richtung gab.\n\nOb er nun aus dem Innern der Halle durch das bronzene Tor\nhervorgetreten oder von außen unversehens heran und hinauf gelangt\nwar, blieb ungewiß. Aschenbach, ohne sich sonderlich in die Frage zu\nvertiefen, neigte zur ersteren Annahme. Mäßig hochgewachsen, mager,\nbartlos und auffallend stumpfnäsig, gehörte der Mann zum rothaarigen\nTyp und besaß dessen milchige und sommersprossige Haut. Offenbar war\ner durchaus nicht bajuwarischen Schlages: wie denn wenigstens der\nbreit und gerade gerandete Basthut, der ihm den Kopf bedeckte, seinem\nAussehen ein Gepräge des Fremdländischen und Weitherkommenden\nverlieh. Freilich trug er dazu den landesüblichen Rucksack um die\nSchultern geschnallt, einen gelblichen Gurtanzug aus Lodenstoff, wie\nes schien, einen grauen Wetterkragen über dem linken Unterarm, den er\nin die Weiche gestützt hielt, und in der Rechten einen mit eiserner\nSpitze versehenen Stock, welchen er schräg gegen den Boden stemmte und\nauf dessen Krücke er, bei gekreuzten Füßen, die Hüfte lehnte. Erhobenen\nHauptes, so daß an seinem hager dem losen Sporthemd entwachsenden\nHalse der Adamsapfel stark und nackt hervortrat, blickte er mit\nfarblosen, rot bewimperten Augen, zwischen denen, sonderbar genug zu\nseiner kurz aufgeworfenen Nase passend, zwei senkrechte, energische\nFurchen standen, scharf spähend ins Weite. So--und vielleicht trug\nsein erhöhter und erhöhender Standort zu diesem Eindruck bei--hatte\nseine Haltung etwas herrisch Überschauendes, Kühnes oder selbst\nWildes; denn sei es, daß er, geblendet, gegen die untergehende Sonne\ngrimassierte oder daß es sich um eine dauernde physiognomische\nEntstellung handelte: seine Lippen schienen zu kurz, sie waren völlig\nvon den Zähnen zurückgezogen, dergestalt, daß diese, bis zum\nZahnfleisch bloßgelegt, weiß und lang dazwischen hervorbleckten.\n\nWohl möglich, daß Aschenbach es bei seiner halb zerstreuten, halb\ninquisitiven Musterung des Fremden an Rücksicht hatte fehlen lassen;\ndenn plötzlich ward er gewahr, daß jener seinen Blick erwiderte und\nzwar so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein, so offenkundig\ngesonnen, die Sache aufs Äußerste zu treiben und den Blick des andern\nzum Abzug zu zwingen, daß Aschenbach, peinlich berührt, sich abwandte\nund einen Gang die Zäune entlang begann, mit dem beiläufigen\nEntschluß, des Menschen nicht weiter achtzuhaben. Er hatte ihn in der\nnächsten Minute vergessen. Mochte nun aber das Wandererhafte in der\nErscheinung des Fremden auf seine Einbildungskraft gewirkt haben oder\nsonst irgendein physischer oder seelischer Einfluß im Spiele sein:\neine seltsame Ausweitung seines Innern ward ihm ganz überraschend\nbewußt, eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges\nVerlangen in die Ferne, ein Gefühl, so lebhaft, so neu oder doch so\nlängst entwöhnt und verlernt, daß er, die Hände auf dem Rücken und den\nBlick am Boden, gefesselt stehen blieb, um die Empfindung auf Wesen\nund Ziel zu prüfen. Es war Reiselust, nichts weiter; aber wahrhaft\nals Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur\nSinnestäuschung gesteigert. Er sah nämlich, als Beispiel gleichsam für\nalle Wunder und Schrecken der mannigfaltigen Erde, die seine Begierde\nsich auf einmal vorzustellen trachtete,--sah wie mit leiblichem Auge\neine ungeheuere Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter\ndickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungesund, eine von Menschen\ngemiedene Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden\nWasserarmen. Die flachen Eilande, deren Boden mit Blättern, so dick\nwie Hände, mit riesigen Farnen, mit fettem, gequollenem und\nabenteuerlich blühendem Pflanzenwerk überwuchert war, sandten haarige\nPalmenschäfte empor, und wunderlich ungestalte Bäume, deren Wurzeln\ndem Stamm entwuchsen und sich durch die Luft in den Boden, ins Wasser\nsenkten, bildeten verworrene Waldungen. Auf der stockenden,\ngrünschattig spiegelnden Flut schwammen, wie Schüsseln groß,\nmilchweiße Blumen; Vögel von fremder Art, hochschultrig, mit\nunförmigen Schnäbeln, standen auf hohen Beinen im Seichten und\nblickten unbeweglich zur Seite, während durch ausgedehnte Schilffelder\nein klapperndes Wetzen und Rauschen ging, wie durch Heere von\nGeharnischten; dem Schauenden war es, als hauchte der laue,\nmephitische Odem dieser geilen und untauglichen Öde ihn an, die in\neinem ungeheuerlichen Zustande von Werden oder Vergehen zu schweben\nschien, zwischen den knotigen Rohrstämmen eines Bambusdickichts\nglaubte er einen Augenblick die phosphoreszierenden Lichter des Tigers\nfunkeln zu sehen--und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und\nrätselhaftem Verlangen. Dann wich das Gesicht; und mit einem\nKopfschütteln nahm Aschenbach seine Promenade an den Zäunen der\nGrabsteinmetzereien wieder auf.\n\nEr hatte, zum mindesten seit ihm die Mittel zu Gebote gewesen wären,\ndie Vorteile des Weltverkehrs beliebig zu genießen, das Reisen nicht\nanders denn als eine hygienische Maßregel betrachtet, die gegen Sinn\nund Neigung dann und wann hatte getroffen werden müssen. Zu\nbeschäftigt mit den Aufgaben, welche sein Ich und die europäische\nSeele ihm stellten, zu belastet von der Verpflichtung zur Produktion,\nder Zerstreuung zu abgeneigt, um zum Liebhaber der bunten Außenwelt\nzu taugen, hatte er sich durchaus mit der Anschauung begnügt, die\nheute jedermann, ohne sich weit aus seinem Kreise zu rühren, von der\nOberfläche der Erde gewinnen kann, und war niemals auch nur versucht\ngewesen, Europa zu verlassen. Zumal seit sein Leben sich langsam\nneigte, seit seine Künstlerfurcht, nicht fertig zu werden,--diese\nBesorgnis, die Uhr möchte abgelaufen sein, bevor er das Seine getan\nund völlig sich selbst gegeben, nicht mehr als bloße Grille von der\nHand zu weisen war, hatte sein äußeres Dasein sich fast ausschließlich\nauf die schöne Stadt, die ihm zur Heimat geworden, und auf den rauhen\nLandsitz beschränkt, den er sich im Gebirge errichtet und wo er die\nregnerischen Sommer verbrachte.\n\nAuch wurde denn, was ihn da eben so spät und plötzlich angewandelt,\nsehr bald durch Vernunft und von jung auf geübte Selbstzucht gemäßigt\nund richtig gestellt. Er hatte beabsichtigt, das Werk, für welches er\nlebte, bis zu einem gewissen Punkte zu fördern, bevor er aufs Land\nübersiedelte, und der Gedanke einer Weltbummelei, die ihn auf Monate\nseiner Arbeit entführen würde, schien allzu locker und planwidrig, er\ndurfte nicht ernstlich in Frage kommen. Und doch wußte er nur zu wohl,\naus welchem Grunde die Anfechtung so unversehens hervorgegangen war.\nFluchtdrang war sie, daß er es sich eingestand, diese Sehnsucht ins\nFerne und Neue, diese Begierde nach Befreiung, Entbürdung und\nVergessen,--der Drang hinweg vom Werke, von der Alltagsstätte eines\nstarren, kalten und leidenschaftlichen Dienstes. Zwar liebte er ihn\nund liebte auch fast schon den entnervenden, sich täglich erneuernden\nKampf zwischen seinem zähen und stolzen, so oft erprobten Willen und\ndieser wachsenden Müdigkeit, von der niemand wissen und die das\nProdukt auf keine Weise, durch kein Anzeichen des Versagens und der\nLaßheit verraten durfte. Aber verständig schien es, den Bogen nicht\nzu überspannen und ein so lebhaft ausbrechendes Bedürfnis nicht\neigensinnig zu ersticken. Er dachte an seine Arbeit, dachte an die\nStelle, an der er sie auch heute wieder, wie gestern schon, hatte\nverlassen müssen und die weder geduldiger Pflege noch einem raschen\nHandstreich sich fügen zu wollen schien. Er prüfte sie aufs neue,\nversuchte die Hemmung zu durchbrechen oder aufzulösen und ließ\nmit einem Schauder des Widerwillens vom Angriff ab. Hier bot sich\nkeine außerordentliche Schwierigkeit, sondern was ihn lähmte, waren\ndie Skrupeln der Unlust, die sich als eine durch nichts mehr zu\nbefriedigende Ungenügsamkeit darstellte. Ungenügsamkeit freilich hatte\nschon dem Jüngling als Wesen und innerste Natur des Talentes gegolten,\nund um ihretwillen hatte er das Gefühl gezügelt und erkältet, weil er\nwußte, daß es geneigt ist, sich mit einem fröhlichen Ungefähr und mit\neiner halben Vollkommenheit zu begnügen. Rächte sich nun also die\ngeknechtete Empfindung, indem sie ihn verließ, indem sie seine Kunst\nfürder zu tragen und zu beflügeln sich weigerte und alle Lust, alles\nEntzücken an der Form und am Ausdruck mit sich hinwegnahm?\nNicht, daß er Schlechtes herstellte: Dies wenigstens war der Vorteil\nseiner Jahre, daß er sich seiner Meisterschaft jeden Augenblick in\nGelassenheit sicher fühlte. Aber er selbst, während die Nation sie\nehrte, er ward ihrer nicht froh, und es schien ihm, als ermangle sein\nWerk jener Merkmale feurig spielender Laune, die, ein Erzeugnis der\nFreude, mehr als irgend ein innerer Gehalt, ein gewichtigerer Vorzug,\ndie Freude der genießenden Welt bildeten. Er fürchtete sich vor dem\nSommer auf dem Lande, allein in dem kleinen Hause mit der Magd, die\nihm das Essen bereitete, und dem Diener, der es ihm auftrug; fürchtete\nsich vor den vertrauten Angesichten der Berggipfel und-wände, die\nwiederum seine unzufriedene Langsamkeit umstehen würden. Und\nso tat denn eine Einschaltung not, etwas Stegreifdasein, Tagdieberei,\nFernluft und Zufuhr neuen Blutes, damit der Sommer erträglich und\nergiebig werde. Reisen also,--er war es zufrieden. Nicht gar weit,\nnicht gerade bis zu den Tigern. Eine Nacht im Schlafwagen und eine\nSiesta von drei, vier Wochen an irgend einem Allerweltsferienplatze im\nliebenswürdigen Süden...\n\nSo dachte er, während der Lärm der elektrischen Tram die Ungererstraße\ndaher sich näherte, und einsteigend beschloß er, diesen Abend dem\nStudium von Karte und Kursbuch zu widmen. Auf der Plattform fiel ihm\nein, nach dem Manne im Basthut, dem Genossen dieses immerhin\nfolgereichen Aufenthaltes, Umschau zu halten. Doch wurde ihm dessen\nVerbleib nicht deutlich, da er weder an seinem vorherigen Standort,\nnoch auf dem weiteren Halteplatz, noch auch im Wagen ausfindig zu\nmachen war.\n\n\n\n\nZweites Kapitel\n\n\nDer Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs\nvon Preußen; der geduldige Künstler, der in langem Fleiß den\nfigurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer Idee\nversammelnden Romanteppich, »Maja« mit Namen, wob; der Schöpfer\njener starken Erzählung, die »Ein Elender« überschrieben ist und einer\nganzen dankbaren Jugend die Möglichkeit sittlicher Entschlossenheit\njenseits der tiefsten Erkenntnis zeigte; der Verfasser endlich (und\ndamit sind die Werke seiner Reifezeit kurz bezeichnet) der\nleidenschaftlichen Abhandlung über »Geist und Kunst«, deren\nordnende Kraft und antithetische Beredsamkeit ernste Beurteiler\nvermochte, sie unmittelbar neben Schillers Raisonnement über naive\nund sentimentalische Dichtung zu stellen: Gustav Aschenbach also war\nzu L., einer Kreisstadt der Provinz Schlesien, als Sohn eines höheren\nJustizbeamten geboren. Seine Vorfahren waren Offiziere, Richter,\nVerwaltungsfunktionäre gewesen, Männer, die im Dienste des Königs, des\nStaates, ihr straffes, anständig karges Leben geführt hatten. Innigere\nGeistigkeit hatte sich einmal, in der Person eines Predigers, unter\nihnen verkörpert; rascheres, sinnlicheres Blut war der Familie in der\nvorigen Generation durch die Mutter des Dichters, Tochter eines\nböhmischen Kapellmeisters, zugekommen. Von ihr stammten die Merkmale\nfremder Rasse in seinem Äußern. Die Vermählung dienstlich nüchterner\nGewissenhaftigkeit mit dunkleren, feurigeren Impulsen ließ einen\nKünstler und diesen besonderen Künstler erstehen. Da sein ganzes\nWesen auf Ruhm gestellt war, zeigte er sich, wenn nicht eigentlich\nfrüh reif, so doch, dank der Entschiedenheit und persönlichen Prägnanz\nseines Tonfalls früh für die Öffentlichkeit reif und geschickt. Beinahe\nnoch Gymnasiast, besaß er einen Namen. Zehn Jahre später hatte\ner gelernt, von seinem Schreibtische aus zu repräsentieren, seinen\nRuhm zu verwalten in einem Briefsatz, der kurz sein mußte (denn viele\nAnsprüche drängen auf den Erfolgreichen, den Vertrauenswürdigen ein),\ngütig und bedeutend zu sein. Der Vierziger hatte, ermattet von den\nStrapazen und Wechselfällen der eigentlichen Arbeit, alltäglich eine\nPost zu bewältigen, die Wertzeichen aus aller Herren Ländern trug.\n\nEbensoweit entfernt vom Banalen wie vom Exzentrischen, war sein Talent\ngeschaffen, den Glauben des breiten Publikums und die bewundernde,\nfordernde Teilnahme der Wählerischen zugleich zu gewinnen. So, schon\nals Jüngling von allen Seiten auf die Leistung--und zwar die\naußerordentliche--verpflichtet, hatte er niemals den Müßiggang,\nniemals die Fahrlässigkeit der Jugend gekannt. Als er um sein\nfünfunddreißigstes Jahr in Wien erkrankte, äußerte ein feiner Beobachter\nüber ihn in Gesellschaft: »Sehen Sie, Aschenbach hat von jeher nur so\ngelebt«--und der Sprecher schloß die Finger seiner Linken fest zur\nFaust--; »niemals so«--und er ließ die geöffnete Hand bequem\nvon der Lehne des Sessels hängen. Das traf zu; und das\nTapfer-Sittliche daran war, daß seine Natur von nichts weniger als\nrobuster Verfassung und zur ständigen Anspannung nur berufen, nicht\neigentlich geboren war.\n\nÄrztliche Fürsorge hatte den Knaben vom Schulbesuch ausgeschlossen\nund auf häuslichen Unterricht gedrungen. Einzeln, ohne Kameradschaft\nwar er aufgewachsen und hatte doch zeitig erkennen müssen, daß er\neinem Geschlecht angehörte, in dem nicht das Talent, wohl aber die\nphysische Basis eine Seltenheit war, deren das Talent zu seiner\nErfüllung bedarf,--einem Geschlechte, das früh sein Bestes zu geben\npflegt und in dem das Können es selten zu Jahren bringt. Aber sein\nLieblingswort war »Durchhalten«,--er sah in seinem Friedrich-Roman\nnichts anderes als die Apotheose dieses Befehlswortes, das ihm als der\nInbegriffleitend-tätiger Tugend erschien. Auch wünschte er sehnlichst,\nalt zu werden, denn er hatte von jeher dafür gehalten, daß wahrhaft\ngroß, umfassend, ja wahrhaft ehrenwert nur das Künstlertum zu nennen\nsei, dem es beschieden war, auf allen Stufen des Menschlichen\ncharakteristisch fruchtbar zu sein.\n\nDa er also die Aufgaben, mit denen sein Talent ihn belud, auf zarten\nSchultern tragen und weit gehen wollte, so bedurfte er höchlich der\nZucht,--und Zucht war ja zum Glücke sein eingeborenes Erbteil von\nväterlicher Seite. Mit vierzig, mit fünfzig Jahren wie schon in einem\nAlter, wo andere verschwenden, schwärmen, die Ausführung großer Pläne\ngetrost verschieben, begann er seinen Tag beizeiten mit Stürzen\nkalten Wassers über Brust und Rücken und brachte dann, ein Paar hoher\nWachskerzen in silbernen Leuchtern zu Häupten des Manuskripts, die\nKräfte, die er im Schlaf gesammelt, in zwei oder drei inbrünstig\ngewissenhaften Morgenstunden der Kunst zum Opfer dar. Es war\nverzeihlich, ja, es bedeutete recht eigentlich den Sieg seiner\nMoralität, wenn Unkundige die Maja-Welt oder die epischen Massen,\nin denen sich Friedrichs Heldenleben entrollte, für das Erzeugnis\ngedrungener Kraft und eines langen Atems hielten, während sie vielmehr\nin kleinen Tagewerken aus hundert Einzelinspirationen zur Größe\nemporgeschichtet und nur darum so durchaus und an jedem Punkte\nvortrefflich waren, weil ihr Schöpfer mit einer Willensdauer und\nZähigkeit, derjenigen ähnlich, die seine Heimatprovinz eroberte,\njahrelang unter der Spannung eines und desselben Werkes ausgehalten\nund an die eigentliche Herstellung ausschließlich seine stärksten und\nwürdigsten Stunden gewandt hatte.\n\nDamit ein bedeutendes Geistesprodukt auf der Stelle eine breite und\ntiefe Wirkung zu üben vermöge, muß eine tiefe Verwandtschaft, ja\nÜbereinstimmung zwischen dem persönlichen Schicksal seines Urhebers\nund dem allgemeinen des mitlebenden Geschlechtes bestehen. Die\nMenschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerk Ruhm bereiten. Weit\nentfernt von Kennerschaft, glauben sie hundert Vorzüge daran zu\nentdecken, um so viel Teilnahme zu rechtfertigen; aber der\neigentliche Grund ihres Beifalls ist ein Unwägbares, ist Sympathie.\nAschenbach hatte es einmal an wenig sichtbarer Stelle unmittelbar\nausgesprochen, daß beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem\ndastehe, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit, Körperschwäche,\nLaster, Leidenschaft und tausend Hemmnissen zustande gekommen sei.\nAber das war mehr als eine Bemerkung, es war eine Erfahrung, war\ngeradezu die Formel seines Lebens und Ruhmes, der Schlüssel zu seinem\nWerk; und was Wunder also, wenn es auch der sittliche Charakter, die\näußere Gebärde seiner eigentümlichsten Figuren war?\n\nÜber den neuen, in mannigfach individuellen Erscheinungen\nwiederkehrenden Heldentyp, den dieser Schriftsteller bevorzugte, hatte\nschon frühzeitig ein kluger Zergliederer geschrieben: daß er die\nKonzeption »einer intellektuellen und jünglinghaften Männlichkeit«\nsei, »die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig\ndasteht, während ihr die Schwerter und Speere durch den Leib gehen«.\nDas war schön, geistreich und exakt, trotz seiner scheinbar allzu\npassivischen Prägung. Denn Haltung im Schicksal, Anmut in der Qual\nbedeutet nicht nur ein Dulden; sie ist eine aktive Leistung, ein\npositiver Triumph, und die Sebastian-Gestalt ist das schönste\nSinnbild, wenn nicht der Kunst überhaupt, so doch gewiß der in Rede\nstehenden Kunst. Blickte man hinein in diese erzählte Welt, sah man\ndie elegante Selbstbeherrschung, die bis zum letzten Augenblick eine\ninnere Unterhöhlung, den biologischen Verfall vor den Augen der Welt\nverbirgt; die gelbe, sinnlich benachteiligte Häßlichkeit, die es\nvermag, ihre schwelende Brunst zur reinen Flamme zu entfachen, ja,\nsich zur Herrschaft im Reiche der Schönheit aufzuschwingen; die\nbleiche Ohnmacht, welche aus den glühenden Tiefen des Geistes die\nKraft holt, ein ganzes übermütiges Volk zu Füßen des Kreuzes, zu\n_ihren_ Füßen niederzuwerfen; die liebenswürdige Haltung im leeren und\nstrengen Dienste der Form; das falsche, gefährliche Leben, die rasch\nentnervende Sehnsucht und Kunst des gebornen Betrügers: betrachtete\nman all dies Schicksal und wieviel gleichartiges noch, so konnte man\nzweifeln, ob es überhaupt einen anderen Heroismus gäbe, als denjenigen\nder Schwäche. Welches Heldentum aber jedenfalls wäre zeitgemäßer als\ndieses? Gustav Aschenbach war der Dichter all derer, die am Rande der\nErschöpfung arbeiten, der Überbürdeten, schon Aufgeriebenen, sich noch\nAufrechthaltenden, all dieser Moralisten der Leistung, die, schmächtig\nvon Wuchs und spröde von Mitteln, durch Willensverzückung und kluge\nVerwaltung sich wenigstens eine Zeitlang die Wirkungen der Größe\nabgewinnen. Ihrer sind viele, sie sind die Helden des Zeitalters. Und\nsie alle erkannten sich wieder in seinem Werk, sie fanden sich\nbestätigt, erhoben, besungen darin, sie wußten ihm Dank, sie\nverkündeten seinen Namen.\n\nEr war jung und roh gewesen mit der Zeit und, schlecht beraten von\nihr, war er öffentlich gestrauchelt, hatte Mißgriffe getan, sich\nbloßgestellt, Verstöße gegen Takt und Besonnenheit begangen in Wort\nund Werk. Aber er hatte die Würde gewonnen, nach welcher, wie er\nbehauptete, jedem großen Talente ein natürlicher Drang und Stachel\neingeboren ist, ja, man kann sagen, daß seine ganze Entwicklung ein\nbewußter und trotziger, alle Hemmungen des Zweifels und der Ironie\nzurücklassender Aufstieg zur Würde gewesen war.\n\nLebendige, geistig unverbindliche Greifbarkeit der Gestaltung bildet\ndas Ergötzen der bürgerlichen Massen, aber leidenschaftlich unbedingte\nJugend wird nur durch das Problematische gefesselt: und Aschenbach\nwar problematisch, war unbedingt gewesen wie nur irgendein Jüngling.\nEr hatte dem Geiste gefrönt, mit der Erkenntnis Raubbau getrieben,\nSaatfrucht vermahlen, Geheimnisse preisgegeben, das Talent\nverdächtigt, die Kunst verraten,--ja, während seine Bildwerke die\ngläubig Genießenden unterhielten, erhoben, belebten, hatte er, der\njugendliche Künstler, die Zwanzigjährigen durch seine Zynismen über\ndas fragwürdige Wesen der Kunst, des Künstlertums selbst in Atem\ngehalten.\n\nAber es scheint, daß gegen nichts ein edler und tüchtiger Geist sich\nrascher, sich gründlicher abstumpft als gegen den scharfen und\nbitteren Reiz der Erkenntnis; und gewiß ist, daß die schwermütig\ngewissenhafteste Gründlichkeit des Jünglings Seichtheit bedeutet im\nVergleich mit dem tiefen Entschlusse des Meister gewordenen Mannes,\ndas Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenen Hauptes darüber\nhinwegzusehen, sofern es den Willen, die Tat, das Gefühl und selbst\ndie Leidenschaft im Geringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu\nentwürdigen geeignet ist. Wie wäre die berühmte Erzählung vom\n»Elenden« wohl anders zu deuten denn als Ausbruch des Ekels gegen\nden unanständigen Psychologismus der Zeit, verkörpert in der Figur\njenes weichen und albernen Halbschurken, der sich ein Schicksal\nerschleicht, indem er sein Weib, aus Ohnmacht, aus Lasterhaftigkeit,\naus ethischer Velleität, in die Arme eines Unbärtigen treibt und aus\nTiefe Nichtswürdigkeiten begehen zu dürfen glaubt? Die Wucht des Wortes,\nmit welchem hier das Verworfene verworfen wurde, verkündete die Abkehr\nvon allem moralischen Zweifelsinn, von jeder Sympathie mit dem Abgrund,\ndie Absage an die Laxheit des Mitleidssatzes, daß alles verstehen\nalles verzeihen heiße, und was sich hier vorbereitete, ja schon vollzog,\nwar jenes »Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit«, auf\nwelches ein wenig später in einem der Dialoge des Autors ausdrücklich\nund nicht ohne geheimnisvolle Betonung die Rede kam. Seltsame\nZusammenhänge! War es eine geistige Folge dieser »Wiedergeburt«,\ndieser neuen Würde und Strenge, daß man um dieselbe Zeit ein fast\nübermäßiges Erstarken seines Schönheitssinnes beobachtete, jene\nadelige Reinheit, Einfachheit und Ebenmäßigkeit der Formgebung,\nwelche seinen Produkten fortan ein so sinnfälliges, ja gewolltes\nGepräge der Meisterlichkeit und Klassizität verlieh? Aber moralische\nEntschlossenheit jenseits des Wissens, der auflösenden und hemmenden\nErkenntnis,--bedeutet sie nicht wiederum eine Vereinfachung, eine\nsittliche Vereinfältigung der Welt und der Seele und also auch ein\nErstarken zum Bösen, Verbotenen, zum sittlich Unmöglichen? Und hat\nForm nicht zweierlei Gesicht? Ist sie nicht sittlich und unsittlich\nzugleich,--sittlich als Ergebnis und Ausdruck der Zucht, unsittlich\naber und selbst widersittlich, sofern sie von Natur eine moralische\nGleichgültigkeit in sich schließt, ja, wesentlich bestrebt ist, das\nMoralische unter ihr stolzes und unumschränktes Szepter zu beugen?\n\nWie dem auch sei! Eine Entwicklung ist ein Schicksal; und wie sollte\nnicht diejenige anders verlaufen, die von der Teilnahme, dem\nMassenzutrauen einer weiten Öffentlichkeit begleitet wird, als jene,\ndie sich ohne den Glanz und die Verbindlichkeiten des Ruhmes\nvollzieht? Nur ewiges Zigeunertum findet es langweilig und ist zu\nspotten geneigt, wenn ein großes Talent dem libertinischen\nPuppenstande entwächst, die Würde des Geistes ausdrucksvoll\nwahrzunehmen sich gewöhnt und die Hofsitten einer Einsamkeit annimmt,\ndie voll unberatener, hart selbständiger Leiden und Kämpfe war und es\nzu Macht und Ehren unter den Menschen brachte. Wieviel Spiel, Trotz,\nGenuß ist übrigens in der Selbstgestaltung des Talentes! Etwas\nAmtlich-Erzieherisches trat mit der Zeit in Gustav Aschenbachs\nVorführungen ein, sein Stil entriet in späteren Jahren der\nunmittelbaren Kühnheiten, der subtilen und neuen Abschattungen, er\nwandelte sich ins Mustergültig-Feststehende, Geschliffen-Herkömmliche,\nErhaltende, Formelle, selbst Formelhafte, und wie die Überlieferung es\nvon Ludwig dem Vierzehnten wissen will, so verbannte der Alternde aus\nseiner Sprachweise jedes gemeine Wort: Damals geschah es, daß die\nUnterrichtsbehörde ausgewählte Seiten von ihm in die vorgeschriebenen\nSchullesebücher übernahm. Es war ihm innerlich gemäß, und er lehnte\nnicht ab, als ein deutscher Fürst, soeben zum Throne gelangt, dem\nDichter des »Friedrich« zu seinem fünfzigsten Geburtstag den\npersönlichen Adel verlieh.\n\nNach einigen Jahren der Unruhe, einigen Versuchsaufenthalten da und\ndort wählte er frühzeitig München zum dauernden Wohnsitz und lebte\ndort in bürgerlichem Ehrenstande, wie er dem Geiste in besonderen\nEinzelfällen zuteil wird. Die Ehe, die er in noch jugendlichem Alter\nmit einem Mädchen aus gelehrter Familie eingegangen, wurde nach kurzer\nGlücksfrist durch den Tod getrennt. Eine Tochter, schon Gattin, war\nihm geblieben. Einen Sohn hatte er nie besessen.\n\nGustav von Aschenbach war ein wenig unter Mittelgröße, brünett,\nrasiert. Sein Kopf erschien ein wenig zu groß im Verhältnis zu der\nfast zierlichen Gestalt. Sein rückwärts gebürstetes Haar, am Scheitel\ngelichtet, an den Schläfen sehr voll und stark ergraut, umrahmte eine\nhohe, zerklüftete und gleichsam narbige Stirn. Der Bügel einer\nGoldbrille mit randlosen Gläsern schnitt in die Wurzel der\ngedrungenen, edel gebogenen Nase ein. Der Mund war groß, oft schlaff,\noft plötzlich schmal und gespannt; die Wangenpartie mager und\ngefurcht, das wohlausgebildete Kinn weich gespalten. Bedeutende\nSchicksale schienen über dies meist leidend seitwärts geneigte Haupt\nhinweggegangen zu sein, und doch war die Kunst es gewesen, die hier\njene physiognomische Durchbildung übernommen hatte, welche sonst das\nWerk eines schweren, bewegten Lebens ist. Hinter dieser Stirn waren\ndie blitzenden Repliken des Gesprächs zwischen Voltaire und dem Könige\nüber den Krieg geboren; diese Augen, müde und tief durch die Gläser\nblickend, hatten das blutige Inferno der Lazarette des Siebenjährigen\nKrieges gesehen. Auch persönlich genommen ist ja die Kunst ein\nerhöhtes Leben. Sie beglückt tiefer, sie verzehrt rascher. Sie gräbt\nin das Antlitz ihres Dieners die Spuren imaginärer und geistiger\nAbenteuer, und sie erzeugt, selbst bei klösterlicher Stille des\näußeren Daseins, auf die Dauer eine Verwöhntheit, Überfeinerung,\nMüdigkeit und Neugier der Nerven, wie ein Leben voll ausschweifendster\nLeidenschaften und Genüsse sie kaum hervorzubringen vermag.\n\n\n\n\nDrittes Kapitel\n\n\nMehrere Geschäfte weltlicher und literarischer Natur hielten den\nReiselustigen noch etwa zwei Wochen nach jenem Spaziergang in München\nzurück. Er gab endlich Auftrag, sein Landhaus binnen vier Wochen zum\nEinzuge instandzusetzen und reiste an einem Tage zwischen Mitte und\nEnde des Mai mit dem Nachtzuge nach Triest, wo er nur vierundzwanzig\nStunden verweilte und sich am nächstfolgenden Morgen nach Pola\neinschiffte. Was er suchte, war das Fremdartige und Bezuglose,\nwelches jedoch rasch zu erreichen wäre, und so nahm er Aufenthalt auf\neiner seit einigen Jahren gerühmten Insel der Adria, unfern der\nistrischen Küste gelegen, mit farbig zerlumptem, in wildfremden Lauten\nredendem Landvolk und schön zerrissenen Klippenpartien dort, wo das\nMeer offen war. Allein Regen und schwere Luft, eine kleinweltliche,\ngeschlossen österreichische Hotelgesellschaft und der Mangel jenes\nruhevoll innigen Verhältnisses zum Meere, das nur ein sanfter,\nsandiger Strand gewährt, verdrossen ihn, ließen ihn nicht das\nBewußtsein gewinnen, den Ort seiner Bestimmung getroffen zu haben; ein\nZug seines Innern, ihm war noch nicht deutlich, wohin, beunruhigte\nihn, er studierte Schiffsverbindungen, er blickte suchend umher, und\nauf einmal, zugleich überraschend und selbstverständlich, stand ihm\nsein Ziel vor Augen. Wenn man über Nacht das Unvergleichliche, das\nmärchenhaft Abweichende zu erreichen wünschte, wohin ging man? Aber\ndas war klar. Was sollte er hier? Er war fehlgegangen. Dorthin hatte\ner reisen wollen. Er säumte nicht, den irrigen Aufenthalt zu kündigen.\nAnderthalb Wochen nach seiner Ankunft auf der Insel trug ein\ngeschwindes Motorboot ihn und sein Gepäck in dunstiger Frühe über die\nWasser in den Kriegshafen zurück, und er ging dort nur an Land, um\nsogleich über einen Brettersteg das feuchte Verdeck eines Schiffes zu\nbeschreiten, das unter Dampf zur Fahrt nach Venedig lag.\n\nEs war ein betagtes Fahrzeug italienischer Nationalität, veraltet,\nrußig und düster. In einer höhlenartigen, künstlich erleuchteten Koje\ndes inneren Raumes, wohin Aschenbach sofort nach Betreten des Schiffes\nvon einem buckligen und unreinlichen Matrosen mit grinsender\nHöflichkeit genötigt wurde, saß hinter einem Tische, den Hut schief in\nder Stirn und einen Zigarettenstummel im Mundwinkel, ein\nziegenbärtiger Mann von der Physiognomie eines altmodischen\nZirkusdirektors, der mit grimassenhaft leichtem Geschäftsgebaren die\nPersonalien der Reisenden aufnahm und ihnen die Fahrscheine\nausstellte. »Nach Venedig!« wiederholte er Aschenbachs Ansuchen, indem\ner den Arm reckte und die Feder in den breiigen Restinhalt eines\nschräg geneigten Tintenfasses stieß. »Nach Venedig erster Klasse! Sie\nsind bedient, mein Herr!« Und er schrieb große Krähenfüße, streute aus\neiner Büchse blauen Sand auf die Schrift, ließ ihn in eine tönerne\nSchale ablaufen, faltete das Papier mit gelben und knochigen Fingern\nund schrieb aufs neue. »Ein glücklich gewähltes Reiseziel!« schwatzte\ner unterdessen. »Ah, Venedig! Eine herrliche Stadt! Eine Stadt von\nunwiderstehlicher Anziehungskraft für den Gebildeten, ihrer Geschichte\nsowohl wie ihrer gegenwärtigen Reize wegen!« Die glatte Raschheit\nseiner Bewegungen und das leere Gerede, womit er sie begleitete,\nhatten etwas Betäubendes und Ablenkendes, etwa als besorgte er, der\nReisende möchte in seinem Entschluß, nach Venedig zu fahren, noch\nwankend werden. Er kassierte eilig und ließ mit Croupiergewandtheit\nden Differenzbetrag auf den fleckigen Tuchbezug des Tisches fallen.\n»Gute Unterhaltung, mein Herr!« sagte er mit schauspielerischer\nVerbeugung. »Es ist mir eine Ehre, Sie zu befördern... Meine Herren!«\nrief er sogleich mit erhobenem Arm und tat, als sei das Geschäft im\nflottesten Gange, obgleich niemand mehr da war, der nach Abfertigung\nverlangt hätte. Aschenbach kehrte auf das Verdeck zurück.\n\nEinen Arm auf die Brüstung gelehnt, betrachtete er das müßige Volk,\ndas, der Abfahrt des Schiffes beizuwohnen, am Quai lungerte, und die\nPassagiere an Bord. Diejenigen der zweiten Klasse kauerten, Männer und\nWeiber, auf dem Vorderdeck, indem sie Kisten und Bündel als Sitze\nbenutzten. Eine Gruppe junger Leute bildete die Reisegesellschaft des\nersten Verdecks, Polenser Handelsgehülfen, wie es schien, die sich in\nangeregter Laune zu einem Ausflug nach Italien vereinigt hatten. Sie\nmachten nicht wenig Aufhebens von sich und ihrem Unternehmen,\nschwatzten, lachten, genossen selbstgefällig das eigene Gebärdenspiel\nund riefen den Kameraden, die, Portefeuilles unterm Arm, in Geschäften\ndie Hafenstraße entlang gingen und den Feiernden mit dem Stöckchen\ndrohten, über das Geländer gebeugt, zungengeläufige Spottreden nach.\nEiner, in hellgelbem, übermodisch geschnittenem Sommeranzug, roter\nKrawatte und kühn aufgebogenem Panama, tat sich mit krähender Stimme\nan Aufgeräumtheit vor allen andern hervor. Kaum aber hatte Aschenbach\nihn genauer ins Auge gefaßt, als er mit einer Art von Entsetzen\nerkannte, daß der Jüngling falsch war. Er war alt, man konnte nicht\nzweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der\nWangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig umwundenen\nStrohhut Perücke, sein Hals verfallen und sehnig, sein aufgesetztes\nSchnurrbärtchen und die Fliege am Kinn gefärbt, sein gelbes und\nvollzähliges Gebiß, das er lachend zeigte, ein billiger Ersatz, und\nseine Hände, mit Siegelringen an beiden Zeigefingern, waren die eines\nGreises. Schauerlich angemutet sah Aschenbach ihm und seiner\nGemeinschaft mit den Freunden zu. Wußten, bemerkten sie nicht, daß er\nalt war, daß er zu Unrecht ihre stutzerhafte und bunte Kleidung trug,\nzu Unrecht einen der Ihren spielte? Selbstverständlich und\ngewohnheitsmäßig, wie es schien, duldeten sie ihn in ihrer Mitte,\nbehandelten ihn als ihresgleichen, erwiderten ohne Abscheu seine\nneckischen Rippenstöße. Wie ging das zu? Aschenbach bedeckte seine\nStirn mit der Hand und schloß die Augen, die heiß waren, da er zu\nwenig geschlafen hatte. Ihm war, als lasse nicht alles sich ganz\ngewöhnlich an, als beginne eine träumerische Entfremdung, eine\nEntstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen, der vielleicht\nEinhalt zu tun wäre, wenn er sein Gesicht ein wenig verdunkelte und\naufs neue um sich schaute. In diesem Augenblick jedoch berührte ihn\ndas Gefühl des Schwimmens, und mit unvernünftigem Erschrecken\naufsehend, gewahrte er, daß der schwere und düstere Körper des\nSchiffes sich langsam vom gemauerten Ufer löste. Zollweise, unter dem\nVorwärts-und Rückwärtsarbeiten der Maschine, verbreitete sich der\nStreifen schmutzig schillernden Wassers zwischen Quai und Schiffswand,\nund nach schwerfälligen Manövern kehrte der Dampfer seinen Bugspriet\ndem offenen Meere zu. Aschenbach ging nach der Steuerbordseite\nhinüber, wo der Bucklige ihm einen Liegestuhl aufgeschlagen hatte und\nein Steward in fleckigem Frack nach seinen Befehlen fragte.\n\nDer Himmel war grau, der Wind feucht; Hafen und Inseln waren\nzurückgeblieben, und rasch verlor sich aus dem dunstigen\nGesichtskreise alles Land. Flocken von Kohlenstaub gingen, gedunsen\nvon Nässe, auf das gewaschene Deck nieder, das nicht trocknen wollte.\nSchon nach einer Stunde spannte man ein Segeldach aus, da es zu regnen\nbegann.\n\nIn seinen Mantel geschlossen, ein Buch im Schoße, ruhte der Reisende,\nund die Stunden verrannen ihm unversehens. Es hatte zu regnen\naufgehört; man entfernte das leinene Dach. Der Horizont war\nvollkommen. Unter der breiten Kuppel des Himmels dehnte sich rings die\nungeheure Scheibe des öden Meeres; aber im leeren, ungegliederten\nRaume fehlt unserem Sinn auch das Maß der Zeit, und wir dämmern im\nUngemessenen. Schattenhaft sonderbare Gestalten, der greise Geck, der\nZiegenbart aus dem Schiffsinnern, gingen mit unbestimmten Gebärden,\nmit verwirrten Traumworten durch den Geist des Ruhenden, und er\nschlief ein.\n\nUm Mittag nötigte man ihn hinab, damit er in dem korridorartigen\nSpeisesaal, auf den die Türen der Schlafkojen mündeten, zu Häupten\neines langen Tisches, an dessen unterem Ende die Handelsgehülfen,\neinschließlich des Alten, seit zehn Uhr mit dem munteren Kapitän\npokulierten, die bestellte Mahlzeit nähme. Sie war armselig, und er\nbeendete sie rasch. Es trieb ihn ins Freie, nach dem Himmel zu sehen:\nob er denn nicht über Venedig sich erhellen wollte.\n\nEr hatte nicht anders gedacht, als daß dies geschehen müsse, denn\nstets hatte die Stadt ihn im Glanze empfangen. Aber Himmel und Meer\nblieben trüb und bleiern, zeitweilig ging neblichter Regen nieder, und\ner fand sich darein, auf dem Wasserwege ein anderes Venedig zu\nerreichen, als er, zu Lande sich nähernd, je angetroffen hatte. Er\nstand am Fockmast, den Blick im Weiten, das Land erwartend. Er\ngedachte des schwermütig-enthusiastischen Dichters, dem vormals die\nKuppeln und Glockentürme seines Traumes aus diesen Fluten gestiegen\nwaren, er wiederholte im Stillen einiges von dem, was damals an\nEhrfurcht, Glück und Trauer zu maßvollem Gesange geworden, und von\nschon gestalteter Empfindung mühelos bewegt, prüfte er sein ernstes\nund müdes Herz, ob eine erneuernde Begeisterung und Verwirrung, ein\nspätes Abenteuer des Gefühles dem fahrenden Müßiggänger vielleicht\nnoch vorbehalten sein könne.\n\nDa tauchte zur Rechten die flache Küste auf, Fischerboote belebten das\nMeer, die Bäderinsel erschien, der Dampfer ließ sie zur Linken, glitt\nverlangsamten Ganges durch den schmalen Port, der nach ihr benannt\nist, und auf der Lagune, angesichts bunt armseliger Behausungen hielt\ner ganz, da die Barke des Sanitätsdienstes erwartet werden mußte.\n\nEine Stunde verging, bis sie erschien. Man war angekommen und war es\nnicht; man hatte keine Eile und fühlte sich doch von Ungeduld\ngetrieben. Die jungen Polenser, patriotisch angezogen auch wohl von\nden militärischen Hornsignalen, die aus der Gegend der öffentlichen\nGärten her über das Wasser klangen, waren auf Deck gekommen, und, vom\nAsti begeistert, brachten sie Lebehochs auf die drüben exerzierenden\nBersaglieri aus. Aber widerlich war es zu sehen, in welchen Zustand\nden aufgestutzten Greisen seine falsche Gemeinschaft mit der Jugend\ngebracht hatte. Sein altes Hirn hatte dem Weine nicht wie die\njugendlich rüstigen Stand zu halten vermocht, er war kläglich\nbetrunken. Verblödeten Blicks, eine Zigarette zwischen den zitternden\nFingern, schwankte er, mühsam das Gleichgewicht haltend, auf der\nStelle, vom Rausche vorwärts und rückwärts gezogen. Da er beim ersten\nSchritte gefallen wäre, getraute er sich nicht vom Fleck, doch zeigte\ner einen jammervollen Übermut, hielt jeden, der sich ihm näherte, am\nKnopfe fest, lallte, zwinkerte, kicherte, hob seinen beringten,\nrunzeligen Zeigefinger zu alberner Neckerei und leckte auf abscheulich\nzweideutige Art mit der Zungenspitze die Mundwinkel. Aschenbach sah\nihm mit finsteren Brauen zu, und wiederum kam ein Gefühl von\nBenommenheit ihn an, so, als zeige die Welt eine leichte, doch nicht\nzu hemmende Neigung, sich ins Sonderbare und Fratzenhafte zu\nentstellen; ein Gefühl, dem nachzuhängen freilich die Umstände ihn\nabhielten, da eben die stampfende Tätigkeit der Maschine aufs neue\nbegann und das Schiff seine so nah dem Ziel unterbrochene Fahrt durch\nden Kanal von San Marco wieder aufnahm. So sah er ihn denn wieder,\nden erstaunlichsten Landungsplatz, jene blendende Komposition\nphantastischen Bauwerks, welche die Republik den ehrfürchtigen Blicken\nnahender Seefahrer entgegenstellte: die leichte Herrlichkeit des\nPalastes und die Seufzerbrücke, die Säulen mit Löw' und Heiligem am\nUfer, die prunkend vortretende Flanke des Märchentempels, den\nDurchblick auf Torweg und Riesenuhr, und anschauend bedachte er, daß\nzu Lande, auf dem Bahnhof in Venedig anlangen, einen Palast durch eine\nHintertür betreten heiße, und daß man nicht anders als wie nun er, als\nzu Schiffe, als über das hohe Meer die unwahrscheinlichste der Städte\nerreichen sollte.\n\nDie Maschine stoppte, Gondeln drängten herzu, die Fallreepstreppe ward\nherabgelassen, Zollbeamte stiegen an Bord und walteten obenhin ihres\nAmtes; die Ausschiffung konnte beginnen. Aschenbach gab zu verstehen,\ndaß er eine Gondel wünsche, die ihn und sein Gepäck zur Station jener\nkleinen Dampfer bringen solle, welche zwischen der Stadt und dem Lido\nverkehren; denn er gedachte am Meere Wohnung zu nehmen. Man billigt\nsein Vorhaben, man schreit seinen Wunsch zur Wasserfläche hinab, wo\ndie Gondelführer im Dialekt mit einander zanken. Er ist noch\ngehindert, hinabzusteigen, sein Koffer hindert ihn, der eben mit\nMühsal die leiterartige Treppe hinunter gezerrt und geschleppt wird.\nSo sieht er sich minutenlang außerstande, den Zudringlichkeiten des\nschauderhaften Alten zu entkommen, den die Trunkenheit dunkel\nantreibt, dem Fremden Abschiedshonneurs zu machen. »Wir wünschen den\nglücklichsten Aufenthalt«, meckert er unter Kratzfüßen. »Man empfiehlt\nsich geneigter Erinnerung! Au revoir, excusez und bon jour, Euer\nExzellenz!« Sein Mund wässert, er drückt die Augen ein, er leckt die\nMundwinkel, und die gefärbte Bartfliege an seiner Greisenlippe sträubt\nsich empor. »Unsere Komplimente«, lallt er, zwei Fingerspitzen am\nMunde, »unsere Komplimente dem Liebchen, dem allerliebsten, dem\nschönsten Liebchen...« Und plötzlich fällt ihm das falsche Obergebiß\nvom Kiefer auf die Unterlippe. Aschenbach konnte entweichen. »Dem\nLiebchen, dem feinen Liebchen«, hörte er in girrenden, hohlen und\nbehinderten Lauten in seinem Rücken, während er, am Strickgeländer\nsich haltend, die Fallreepstreppe hinabklomm.\n\nWer hätte nicht einen flüchtigen Schauder, eine geheime Scheu und\nBeklommenheit zu bekämpfen gehabt, wenn es zum ersten Male oder nach\nlanger Entwöhnung galt, eine venezianische Gondel zu besteigen? Das\nseltsame Fahrzeug, aus balladesken Zeiten ganz unverändert überkommen\nund so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge\nsind, es erinnert an lautlose und verbrecherische Abenteuer in\nplätschernder Nacht, es erinnert noch mehr an den Tod selbst, an Bahre\nund düsteres Begängnis und letzte, schweigsame Fahrt. Und hat man\nbemerkt, daß der Sitz einer solchen Barke, dieser sargschwarz\nlackierte, mattschwarz gepolsterte Armstuhl, der weichste, üppigste,\nder erschlaffendste Sitz von der Welt ist? Aschenbach ward es gewahr,\nals er zu Füßen des Gondoliers, seinem Gepäck gegenüber, das am\nSchnabel reinlich beisammen lag, sich niedergelassen hatte. Die\nRuderer zankten immer noch, rauh, unverständlich, mit drohenden\nGebärden. Aber die besondere Stille der Wasserstadt schien ihre\nStimmen sanft aufzunehmen, zu entkörpern, über der Flut zu zerstreuen.\nEs war warm hier im Hafen. Lau angerührt vom Hauch des Scirocco, auf\ndem nachgiebigen Element in Kissen gelehnt, schloß der Reisende die\nAugen im Genuß einer so ungewohnten als süßen Lässigkeit. Die Fahrt\nwird kurz sein, dachte er; möchte sie immer währen! In leisem\nSchwanken fühlte er sich dem Gedränge, dem Stimmengewirr entgleiten.\n\nWie still und stiller es um ihn wurde! Nichts war zu vernehmen als das\nPlätschern des Ruders, das hohle Aufschlagen der Wellen gegen den\nSchnabel der Barke, der steil, schwarz und an der Spitze\nhellebardenartig bewehrt über dem Wasser stand und noch ein Drittes,\nein Reden, ein Raunen,--das Flüstern des Gondoliers, der zwischen den\nZähnen, stoßweise, in Lauten, die von der Arbeit seiner Arme gepreßt\nwaren, zu sich selber sprach. Aschenbach blickte auf, und mit leichter\nBefremdung gewahrte er, daß um ihn her die Lagune sich weitete und\nseine Fahrt dem offenen Meere zugekehrt war. Es schien folglich, daß\ner nicht allzu sehr ruhen dürfe, sondern auf den Vollzug seines\nWillens ein wenig bedacht sein müsse.\n\n--Zur Dampferstation also! sagte er mit einer halben Wendung\nrückwärts. Das Raunen verstummte. Er erhielt keine Antwort.\n\n--Zur Dampferstation also! wiederholte er, indem er sich vollends\numwandte und in das Gesicht des Gondoliers emporblickte, der hinter\nihm, auf erhöhtem Borde stehend, vor dem fahlen Himmel aufragte. Es\nwar ein Mann von ungefälliger, ja brutaler Physiognomie, seemännisch\nblau gekleidet, mit einer gelben Schärpe gegürtet und einen formlosen\nStrohhut, dessen Geflecht sich aufzulösen begann, verwegen schief auf\ndem Kopfe. Seine Gesichtsbildung, sein blonder, lockiger Schnurrbart\nunter der kurz aufgeworfenen Nase ließen ihn durchaus nicht\nitalienischen Schlages erscheinen. Obgleich eher schmächtig von\nLeibesbeschaffenheit, so daß man ihn für seinen Beruf nicht sonderlich\ngeschickt geglaubt hätte, führte er das Ruder, bei jedem Schlage den\nganzen Körper einsetzend, mit großer Energie. Ein paarmal zog er vor\nAnstrengung die Lippen zurück und entblößte seine weißen Zähne. Die\nrötlichen Brauen gerunzelt, blickte er über den Gast hinweg, indem er\nbestimmten, fast groben Tones erwiderte:\n\n--Sie fahren zum Lido.\n\nAschenbach entgegnete:\n\n--Allerdings. Aber ich habe die Gondel nur genommen, um mich nach San\nMarco übersetzen zu lassen. Ich wünsche den Vaporetto zu benutzen.\n\n--Sie können den Vaporetto nicht benutzen, mein Herr.\n\n--Und warum nicht?\n\n--Weil der Vaporetto kein Gepäck befördert.\n\nDas war richtig; Aschenbach erinnerte sich. Er schwieg. Aber die\nschroffe, überhebliche, einem Fremden gegenüber so wenig landesübliche\nArt des Menschen schien unleidlich. Er sagte:\n\n--Das ist meine Sache. Vielleicht will ich mein Gepäck in Verwahrung\ngeben. Sie werden umkehren. Er blieb still. Das Ruder plätscherte,\ndas Wasser schlug dumpf an den Bug. Und das Reden und Raunen begann\nwieder: der Gondolier sprach zwischen den Zähnen mit sich selbst.\n\nWas war zu tun? Allein auf der Flut mit dem sonderbar unbotmäßigen,\nunheimlich entschlossenen Menschen, sah der Reisende kein Mittel,\nseinen Willen durchzusetzen. Wie weich er übrigens ruhen durfte, wenn\ner sich nicht empörte. Hatte er nicht gewünscht, daß die Fahrt lange,\ndaß sie immer dauern möge? Es war das Klügste, den Dingen ihren Lauf\nzu lassen, und es war hauptsächlich höchst angenehm. Ein Bann der\nTrägheit schien auszugehen von seinem Sitz, von diesem niedrigen,\nschwarzgepolsterten Armstuhl, so sanft gewiegt von den Ruderschlägen\ndes eigenmächtigen Gondoliers in seinem Rücken. Die Vorstellung, einem\nVerbrecher in die Hände gefallen zu sein, streifte träumerisch\nAschenbachs Sinn,--unvermögend, seine Gedanken zu tätiger Abwehr\naufzurufen. Verdrießlicher schien die Möglichkeit, daß alles auf\nsimple Geldschneiderei angelegt sei. Eine Art Pflichtgefühl oder\nStolz, die Erinnerung gleichsam, daß man dem vorbeugen müsse,\nvermochte ihn, sich noch einmal aufzuraffen. Er fragte:\n\n--Was fordern Sie für die Fahrt?\n\nUnd über ihn hinsehend antwortete der Gondolier:\n\n--Sie werden bezahlen.\n\nEs stand fest, was hierauf zurückzugeben war. Aschenbach sagte\nmechanisch:\n\n--Ich werde nichts bezahlen, durchaus nichts, wenn Sie mich fahren,\nwohin ich nicht will.\n\n--Sie wollen zum Lido.\n\n--Aber nicht mit Ihnen.\n\n--Ich fahre Sie gut.\n\nDas ist wahr, dachte Aschenbach und spannte sich ab. Das ist wahr, du\nfährst mich gut. Selbst, wenn du es auf meine Barschaft abgesehen hast\nund mich hinterrücks mit einem Ruderschlage ins Haus des Aides\nschickst, wirst du mich gut gefahren haben. Allein nichts dergleichen\ngeschah. Sogar Gesellschaft stellte sich ein, ein Boot mit\nmusikalischen Wegelagerern, Männern und Weibern, die zur Guitarre,\nzur Mandoline sangen, aufdringlich Bord an Bord mit der Gondel fuhren\nund die Stille über den Wassern mit ihrer gewinnsüchtigen\nFremdenpoesie erfüllten. Aschenbach warf Geld in den hingehaltenen\nHut. Sie schwiegen dann und fuhren davon. Und das Flüstern des\nGondoliers war wieder wahrnehmbar, der stoßweise und abgerissen mit\nsich selber sprach.\n\nSo kam man denn an, geschaukelt vom Kielwasser eines zur Stadt\nfahrenden Dampfers. Zwei Munizipalbeamte, die Hände auf dem Rücken,\ndie Gesichter der Lagune zugewandt, gingen am Ufer auf und ab.\nAschenbach verließ am Stege die Gondel, unterstützt von jenem Alten,\nder an jedem Landungsplatze Venedigs mit seinem Enterhaken zur Stelle\nist; und da es ihm an kleinerem Gelde fehlte, ging er hinüber in das\nder Dampferbrücke benachbarte Hotel, um dort zu wechseln und den\nRuderer nach Gutdünken abzulohnen. Er wird in der Halle bedient, er\nkehrt zurück, er findet sein Reisegut auf einem Karren am Quai, und\nGondel und Gondolier sind verschwunden.\n\n--Er hat sich fortgemacht, sagte der Alte mit dem Enterhaken. Ein\nschlechter Mann, ein Mann ohne Konzession, gnädiger Herr. Er ist der\neinzige Gondolier, der keine Konzession besitzt. Die andern haben\nhierher telephoniert. Er sah, daß er erwartet wurde. Da hat er sich\nfortgemacht.\n\nAschenbach zuckte die Achseln.\n\n--Der Herr ist umsonst gefahren, sagte der Alte und hielt den Hut hin.\nAschenbach warf Münzen hinein. Er gab Weisung, sein Gepäck ins\nBäder-Hotel zu bringen, und folgte dem Karren durch die Allee, die\nweißblühende Allee, welche, Tavernen, Bazare, Pensionen zu beiden\nSeiten, quer über die Insel zum Strande läuft.\n\nEr betrat das weitläufige Hotel von hinten, von der Gartenterrasse aus\nund begab sich durch die große Halle und die Vorhalle ins Office. Da\ner angemeldet war, wurde er mit dienstfertigem Einverständnis\nempfangen. Ein Manager, ein kleiner, leiser, schmeichelnd höflicher\nMann mit schwarzem Schnurrbart und in französisch geschnittenem\nGehrock, begleitete ihn im Lift zum zweiten Stockwerk hinauf und wies\nihm sein Zimmer an, einen angenehmen, in Kirschholz möblierten Raum,\nden man mit starkduftenden Blumen geschmückt hatte und dessen hohe\nFenster die Aussicht aufs offene Meer gewährten. Er trat an eines\ndavon, nachdem der Angestellte sich zurückgezogen, und während man\nhinter ihm sein Gepäck hereinschaffte und im Zimmer unterbrachte,\nblickte er hinaus auf den nachmittäglich menschenarmen Strand und die\nunbesonnte See, die Flutzeit hatte und niedrige, gestreckte Wellen in\nruhigem Gleichtakt gegen das Ufer sandte.\n\nDie Beobachtungen und Begegnisse des Einsam-Stummen sind zugleich\nverschwommener und eindringlicher als die des Geselligen, seine\nGedanken schwerer, wunderlicher und nie ohne einen Anflug von\nTraurigkeit. Bilder und Wahrnehmungen, die mit einem Blick, einem\nLachen, einem Urteilsaustausch leichthin abzutun wären, beschäftigen\nihn über Gebühr, vertiefen sich im Schweigen, werden bedeutsam,\nErlebnis, Abenteuer, Gefühl. Einsamkeit zeitigt das Originale, das\ngewagt und befremdend Schöne, das Gedicht. Einsamkeit zeitigt aber\nauch das Verkehrte, das Unverhältnismäßige, das Absurde und\nUnerlaubte.--So beunruhigten die Erscheinungen der Herreise, der\ngräßliche alte Stutzer mit seinem Gefasel vom Liebchen, der verpönte,\num seinen Lohn geprellte Gondolier, noch jetzt das Gemüt des\nReisenden. Ohne der Vernunft Schwierigkeiten zu bieten, ohne\neigentlich Stoff zum Nachdenken zu geben, waren sie dennoch\ngrundsonderbar von Natur, wie es ihm schien, und beunruhigend wohl\neben durch diesen Widerspruch. Dazwischen grüßte er das Meer mit den\nAugen und empfand Freude, Venedig in so leicht erreichbarer Nahe zu\nwissen. Er wandte sich endlich, badete sein Gesicht, traf gegen das\nZimmermädchen einige Anordnungen zur Vervollständigung seiner\nBequemlichkeit und ließ sich von dem grün gekleideten Schweizer, der\nden Lift bediente, ins Erdgeschoß hinunterfahren.\n\nEr nahm seinen Tee auf der Terrasse der Seeseite, stieg dann hinab und\nverfolgte den Promenaden-Quai eine gute Strecke in der Richtung auf\ndas Hotel Excelsior. Als er zurückkehrte, schien es schon an der\nZeit, sich zur Abendmahlzeit umzukleiden. Er tat es langsam und genau,\nnach seiner Art, da er bei der Toilette zu arbeiten gewöhnt war, und\nfand sich trotzdem ein wenig verfrüht in der Halle ein, wo er einen\ngroßen Teil der Hotelgäste, fremd untereinander und in gespielter\ngegenseitiger Teilnahmslosigkeit, aber in der gemeinsamen Erwartung\ndes Essens, versammelt fand. Er nahm eine Zeitung vom Tische, ließ\nsich in einen Ledersessel nieder und betrachtete die Gesellschaft, die\nsich von derjenigen seines ersten Aufenthaltes in einer ihm angenehmen\nWeise unterschied.\n\nEin weiter, duldsam vieles umfassender Horizont tat sich auf.\nGedämpft, vermischten sich die Laute der großen Sprachen. Der\nweltgültige Abendanzug, eine Uniform der Gesittung, faßte äußerlich\ndie Spielarten des Menschlichen zu anständiger Einheit zusammen. Man\nsah die trockene und lange Miene des Amerikaners, die vielgliedrige\nrussische Familie, englische Damen, deutsche Kinder mit französischen\nBonnen. Der slavische Bestandteil schien vorzuherrschen. Gleich in der\nNähe ward polnisch gesprochen.\n\nEs war eine Gruppe halb und kaum Erwachsener, unter der Obhut einer\nErzieherin oder Gesellschafterin um ein Rohrtischchen versammelt: drei\njunge Mädchen, fünfzehn-bis siebzehnjährig, wie es schien, und ein\nlanghaariger Knabe von vielleicht vierzehn Jahren. Mit Erstaunen\nbemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war. Sein\nAntlitz,--bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar\numringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem\nAusdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische\nBildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war\nes von so einmalig-persönlichem Reiz, daß der Schauende weder in Natur\nnoch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben\nglaubte. Was ferner auffiel, war ein offenbar grundsätzlicher Kontrast\nzwischen den erzieherischen Gesichtspunkten, nach denen die\nGeschwister gekleidet und allgemein gehalten schienen. Die Herrichtung\nder drei Mädchen, von denen die Älteste für erwachsen gelten konnte,\nwar bis zum Entstellenden herb und keusch. Eine gleichmäßig\nklösterliche Tracht, schieferfarben, halblang, nüchtern und gewollt\nunkleidsam von Schnitt, mit weißen Fallkrägen als einziger Aufhellung,\nunterdrückte und verhinderte jede Gefälligkeit der Gestalt. Das glatt\nund fest an den Kopf geklebte Haar ließ die Gesichter nonnenhaft leer\nund nichtssagend erscheinen. Gewiß, es war eine Mutter, die hier\nwaltete, und sie dachte nicht einmal daran, auch auf den Knaben die\npädagogische Strenge anzuwenden, die ihr den Mädchen gegenüber geboten\nschien. Weichheit und Zärtlichkeit bestimmten ersichtlich seine\nExistenz. Man hatte sich gehütet, die Scheere an sein schönes Haar zu\nlegen; wie beim Dornauszieher lockte es sich in die Stirn, über die\nOhren und tiefer noch in den Nacken. Ein englisches Matrosenkostüm,\ndessen bauschige Ärmel sich nach unten verengerten und die feinen\nGelenke seiner noch kindlichen, aber schmalen Hände knapp umspannten,\nverlieh mit seinen Schnüren, Maschen und Stickereien der zarten\nGestalt etwas Reiches und Verwöhntes. Er saß, im Halbprofil gegen den\nBetrachtenden, einen Fuß im schwarzen Lackschuh vor den andern\ngestellt, einen Ellenbogen auf die Armlehne seines Korbsessels\ngestützt, die Wange an die geschlossene Hand geschmiegt, in einer\nHaltung von lässigem Anstand und ganz ohne die fast untergeordnete\nSteifheit, an die seine weiblichen Geschwister gewöhnt schienen. War\ner leidend? Denn die Haut seines Gesichtes stach weiß wie Elfenbein\ngegen das goldige Dunkel der umrahmenden Locken ab. Oder war er\neinfach ein verzärteltes Vorzugskind, von parteilicher und launischer\nLiebe getragen? Aschenbach war geneigt, dies zu glauben. Fast jedem\nKünstlernaturell ist ein üppiger und verräterischer Hang eingeboren,\nSchönheit schaffende Ungerechtigkeit anzuerkennen und aristokratischer\nBevorzugung Teilnahme und Huldigung entgegenzubringen.\n\nEin Kellner ging umher und meldete auf englisch, daß die Mahlzeit\nbereit sei. Allmählich verlor sich die Gesellschaft durch die Glastür\nin den Speisesaal. Nachzügler, vom Vestibül, von den Lifts kommend,\ngingen vorüber. Man hatte drinnen zu servieren begonnen, aber die\njungen Polen verharrten noch um ihr Rohrtischchen, und Aschenbach, in\ntiefem Sessel behaglich aufgehoben und übrigens das Schöne vor Augen,\nwartete mit ihnen.\n\nDie Gouvernante, eine kleine und korpulente Halbdame mit rotem\nGesicht, gab endlich das Zeichen, sich zu erheben. Mit hochgezogenen\nBrauen schob sie ihren Stuhl zurück und verneigte sich, als eine große\nFrau, grau-weiß gekleidet und sehr reich mit Perlen geschmückt, die\nHalle betrat. Die Haltung dieser Frau war kühl und gemessen, die\nAnordnung ihres leicht gepuderten Haares sowohl wie die Machart ihres\nKleides von jener Einfachheit, die überall da den Geschmack bestimmt,\nwo Frömmigkeit als Bestandteil der Vornehmheit gilt. Sie hätte die\nFrau eines hohen deutschen Beamten sein können. Etwas von\nphantastischem Aufwand kam in ihre Erscheinung einzig durch ihren\nSchmuck, der in der Tat kaum schätzbar war und aus Ohrgehängen, sowie\neiner dreifachen, sehr langen Kette kirschengroßer, mild schimmernder\nPerlen bestand.\n\nDie Geschwister waren rasch aufgestanden. Sie beugten sich zum Kuß\nüber die Hand ihrer Mutter, die mit einem zurückhaltenden Lächeln\nihres gepflegten, doch etwas müden und spitznäsigen Gesichtes über\nihre Köpfe hinwegblickte und einige Worte in französischer Sprache an\ndie Erzieherin richtete. Dann schritt sie zur Glastür. Die Geschwister\nfolgten ihr: die Mädchen in der Reihenfolge ihres Alters, nach ihnen\ndie Gouvernante, zuletzt der Knabe. Aus irgend einem Grunde wandte er\nsich um, bevor er die Schwelle überschritt, und da niemand sonst mehr\nin der Halle sich aufhielt, begegneten seine eigentümlich dämmergrauen\nAugen denen Aschenbachs, der, seine Zeitung auf den Knien, in\nAnschauung versunken, der Gruppe nachblickte.\n\nWas er gesehen, war gewiß in keiner Einzelheit auffallend gewesen. Man\nwar nicht vor der Mutter zu Tische gegangen, man hatte sie erwartet,\nsie ehrerbietig begrüßt und beim Eintritt in den Saal gebräuchliche\nFormen beobachtet. Allein das alles hatte sich so ausdrücklich, mit\neinem solchen Akzent von Zucht, Verpflichtung und Selbstachtung\ndargestellt, daß Aschenbach sich sonderbar ergriffen fühlte. Er\nzögerte noch einige Augenblicke, ging dann auch seinerseits in den\nSpeisesaal hinüber und ließ sich sein Tischchen anweisen, das, wie er\nmit einer kurzen Regung des Bedauerns feststellte, sehr weit von dem\nder polnischen Familie entfernt war.\n\nMüde und dennoch geistig bewegt, unterhielt er sich während der\nlangwierigen Mahlzeit mit abstrakten, ja transzendenten Dingen, sann\nnach über die geheimnisvolle Verbindung, welche das Gesetzmäßige mit\ndem Individuellen eingehen müsse, damit menschliche Schönheit\nentstehe, kam von da aus auf allgemeine Probleme der Form und der\nKunst und fand am Ende, daß seine Gedanken und Funde gewissen\nscheinbar glücklichen Einflüsterungen des Traumes glichen, die sich\nbei ernüchtertem Sinn als vollständig schal und untauglich erweisen.\nEr hielt sich nach Tische rauchend, sitzend, umherwandelnd, in dem\nabendlich duftenden Parke auf, ging zeitig zur Ruhe und verbrachte die\nNacht in anhaltend tiefem, aber von Traumbildern verschiedentlich\nbelebtem Schlaf.\n\nDas Wetter ließ sich am folgenden Tage nicht günstiger an. Landwind\nging. Unter fahlem, bedecktem Himmel lag das Meer in stumpfer Ruhe,\nverschrumpft gleichsam, mit nüchtern nahem Horizont und so weit vom\nStrande zurückgetreten, daß es mehrere Reihen langer Sandbänke\nfreiließ. Als Aschenbach sein Fenster öffnete, glaubte er den fauligen\nGeruch der Lagune zu spüren.\n\nVerstimmung befiel ihn. Schon in diesem Augenblick dachte er an\nAbreise. Einmal, vor Jahren, hatte nach zwei heiteren Frühlingswochen\nhier dies Wetter ihn heimgesucht und sein Befinden so schwer\ngeschädigt, daß er Venedig wie ein Fliehender hatte verlassen müssen.\nStellte nicht schon wieder die fiebrige Unlust von damals, der Druck\nin den Schläfen, die Schwere der Augenlider sich ein? Noch einmal den\nAufenthalt zu wechseln würde lästig sein; wenn aber der Wind nicht\numschlug, so war seines Bleibens hier nicht. Er packte zur Sicherheit\nnicht völlig aus. Um neun Uhr frühstückte er in dem hierfür\nvorbehaltenen Büfettzimmer zwischen Halle und Speisesaal.\n\nIn dem Raum herrschte die feierliche Stille, die zum Ehrgeiz der\ngroßen Hotels gehört. Die bedienenden Kellner gingen auf leisen Sohlen\numher. Ein Klappern des Teegerätes, ein halbgeflüstertes Wort war\nalles, was man vernahm. In einem Winkel, schräg gegenüber der Tür und\nzwei Tische von seinem entfernt, bemerkte Aschenbach die polnischen\nMädchen mit ihrer Erzieherin. Sehr aufrecht, das aschblonde Haar neu\ngeglättet und mit geröteten Augen, in steifen blauleinenen Kleidern\nmit kleinen weißen Fallkrägen und Manschetten saßen sie da und\nreichten einander ein Glas mit Eingemachtem. Sie waren mit ihrem\nFrühstück fast fertig. Der Knabe fehlte.\n\nAschenbach lächelte. Nun kleiner Phäake! dachte er. Du scheinst vor\ndiesen das Vorrecht beliebigen Ausschlafens zu genießen. Und plötzlich\naufgeheitert rezitierte er bei sich selbst den Vers:\n\n»Oft veränderten Schmuck und warme Bäder und Ruhe.«\n\nEr frühstückte ohne Eile, empfing aus der Hand des Portiers, der mit\ngezogener Tressenmütze in den Saal kam, einige nachgesandte Post und\nöffnete, eine Zigarette rauchend, ein paar Briefe. So geschah es, daß\ner dem Eintritt des Langschläfers noch beiwohnte, den man dort drüben\nerwartete.\n\nEr kam durch die Glastür und ging in der Stille schräg durch den Raum\nzum Tisch seiner Schwestern. Sein Gehen war sowohl in der Haltung des\nOberkörpers wie in der Bewegung der Kniee, dem Aufsetzen des\nweißbeschuhten Fußes von außerordentlicher Anmut, sehr leicht,\nzugleich zart und stolz und verschönt noch durch die kindliche\nVerschämtheit, in welcher er zweimal unterwegs, mit einer Kopfwendung\nin den Saal, die Augen aufschlug und senkte. Lächelnd, mit einem\nhalblauten Wort in seiner weich verschwommenen Sprache nahm er seinen\nPlatz ein, und jetzt zumal, da er dem Schauenden sein genaues Profil\nzuwandte, erstaunte dieser aufs neue, ja erschrak über die wahrhaft\ngottähnliche Schönheit des Menschenkindes. Der Knabe trug heute einen\nleichten Blusenanzug aus blau und weiß gestreiftem Waschstoff mit\nrotseidener Masche auf der Brust und am Halse von einem einfachen\nweißen Stehkragen abgeschlossen. Auf diesem Kragen aber, der nicht\neinmal sonderlich elegant zum Charakter des Anzugs passen wollte,\nruhte die Blüte des Hauptes in unvergleichlichem Liebreiz,--das Haupt\ndes Eros, vom gelblichen Schmelze parischen Marmors, mit feinen und\nernsten Brauen, Schläfen und Ohr vom rechtwinklig einspringenden\nGeringel des Haares dunkel und weich bedeckt.\n\nGut, gut, dachte Aschenbach mit jener fachmännisch kühlen Billigung,\nin welche Künstler zuweilen einem Meisterwerk gegenüber ihr Entzücken,\nihre Hingerissenheit kleiden. Und weiter dachte er: Wahrhaftig,\nerwarteten mich nicht Meer und Strand, ich bliebe hier, so lange du\nbleibst! So aber ging er denn, ging unter den Aufmerksamkeiten des\nPersonals durch die Halle, die große Terrasse hinab und gerade aus\nüber den Brettersteg zum abgesperrten Strand der Hotelgäste. Er ließ\nsich von dem barfüßigen Alten, der sich in Leinwandhose, Matrosenbluse\nund Strohhut dort unten als Bademeister tätig zeigte, die gemietete\nStrandhütte zuweisen, ließ Tisch und Sessel hinaus auf die sandig\nbretterne Plattform stellen und machte sich's bequem in dem\nLiegestuhl, den er weiter zum Meere hin in den wachsgelben Sand\ngezogen hatte.\n\nDas Strandbild, dieser Anblick sorglos sinnlich genießender Kultur am\nRande des Elementes, unterhielt und erfreute ihn wie nur je. Schon war\ndie graue und flache See belebt von watenden Kindern, Schwimmern,\nbunten Gestalten, welche, die Arme unter dem Kopf verschränkt, auf den\nSandbänken lagen. Andere ruderten in kleinen rot und blau gestrichenen\nBooten ohne Kiel und kenterten lachend. Vor der gedehnten Zeile der\nCapannen, auf deren Plattformen man wie auf kleinen Veranden saß, gab\nes spielende Bewegung und träg hingestreckte Ruhe, Besuche und\nGeplauder, sorgfältige Morgeneleganz neben der Nacktheit, die\nkeck-behaglich die Freiheiten des Ortes genoß. Vorn auf dem feuchten\nund festen Sande lustwandelten Einzelne in weißen Bademänteln, in\nweiten, starkfarbigen Hemdgewändern. Eine vielfältige Sandburg zur\nRechten, von Kindern hergestellt, war rings mit kleinen Flaggen in den\nFarben aller Länder besteckt. Verkäufer von Muscheln, Kuchen und\nFrüchten breiteten kniend ihre Waren aus. Links, vor einer der Hütten,\ndie quer zur Reihe der übrigen und zum Meere standen und auf dieser\nSeite einen Abschluß des Strandes bildeten, kampierte eine russische\nFamilie: Männer mit Bärten und großen Zähnen, mürbe und träge Frauen,\nein baltisches Fräulein, das an einer Staffelei sitzend unter Ausrufen\nder Verzweiflung das Meer malte, zwei gutmütig-häßliche Kinder, eine\nalte Magd im Kopftuch und mit zärtlich unterwürfigen Sklavenmanieren.\nDankbar genießend lebten sie dort, riefen unermüdlich die Namen der\nunfolgsam sich tummelnden Kinder, scherzten vermittelst weniger\nitalienischer Worte lange mit dem humoristischen Alten, von dem sie\nZuckerwerk kauften, küßten einander auf die Wangen und kümmerten sich\num keinen Beobachter ihrer menschlichen Gemeinschaft.\n\nIch will also bleiben, dachte Aschenbach. Wo wäre es besser? Und die\nHände im Schoß gefaltet, ließ er seine Augen sich in den Weiten des\nMeeres verlieren, seinen Blick entgleiten, verschwimmen, sich brechen\nim eintönigen Dunst der Raumeswüste. Er liebte das Meer aus tiefen\nGründen: aus dem Ruheverlangen des schwer arbeitenden Künstlers, der\nvon der anspruchsvollen Vielgestalt der Erscheinungen an der Brust des\nEinfachen, Ungeheueren sich zu bergen begehrt; aus einem verbotenen,\nseiner Aufgabe gerade entgegengesetzten und eben darum verführerischen\nHange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts. Am\nVollkommenen zu ruhen, ist die Sehnsucht dessen, der sich um das\nVortreffliche müht; und ist nicht das Nichts eine Form des\nVollkommenen? Wie er nun aber so tief ins Leere träumte, ward\nplötzlich die Horizontale des Ufersaumes von einer menschlichen\nGestalt überschnitten, und als er seinen Blick aus dem Unbegrenzten\neinholte und sammelte, da war es der schöne Knabe, der von links\nkommend vor ihm im Sande vorüberging. Er ging barfuß, zum Waten\nbereit, die schlanken Beine bis über die Knie entblößt, langsam, aber\nso leicht und stolz, als sei er ohne Schuhwerk sich zu bewegen ganz\ngewöhnt, und schaute sich nach den querstehenden Hütten um. Kaum aber\nhatte er die russische Familie bemerkt, die dort in dankbarer\nEintracht ihr Wesen trieb, als ein Unwetter zorniger Verachtung sein\nGesicht überzog. Seine Stirn verfinsterte sich, sein Mund ward\nemporgehoben, von den Lippen nach einer Seite ging ein erbittertes\nZerren, daß die Wange zerriß, und seine Brauen waren so schwer\ngerunzelt, daß unter ihrem Druck die Augen eingesunken schienen und\nböse und dunkel darunter hervor die Sprache des Hasses führten. Er\nblickte zu Boden, blickte noch einmal drohend zurück, tat dann mit der\nSchulter eine heftig wegwerfende Bewegung und ließ die Feinde im\nRücken.\n\nEine Art Zartgefühl oder Erschrockenheit, etwas wie Achtung und Scham,\nveranlaßte Aschenbach, sich abzuwenden, als ob er nichts gesehen\nhätte; denn dem ernsten Zufallsbeobachter der Leidenschaft widerstrebt\nes, von seinen Wahrnehmungen auch nur vor sich selber Gebrauch zu\nmachen. Er war aber erheitert und erschüttert zugleich, das heißt:\nbeglückt. Dieser kindische Fanatismus, gerichtet gegen das gutmütigste\nStück Leben,--er stellte das Göttlich-Nichtssagende in menschliche\nBeziehungen; er ließ ein kostbares Bildwerk der Natur, das nur zur\nAugenweide getaugt hatte, einer tieferen Teilnahme wert erscheinen;\nund er verlieh der ohnehin durch Schönheit bedeutenden Gestalt des\nHalbwüchsigen eine politisch-geschichtliche Folie, die gestattete, ihn\nüber seine Jahre ernst zu nehmen.\n\nNoch abgewandt, lauschte Aschenbach auf die Stimme des Knaben, seine\nhelle, ein wenig schwache Stimme, mit der er sich von weitem schon den\num die Sandburg beschäftigten Gespielen grüßend anzukündigen suchte.\nMan antwortete ihm, indem man ihm seinen Namen oder eine Koseform\nseines Namens mehrfach entgegenrief, und Aschenbach horchte mit einer\ngewissen Neugier darauf, ohne Genaueres erfassen zu können, als zwei\nmelodische Silben wie »Adgio« oder öfter noch »Adgiu« mit rufend\ngedehntem u-Laut am Ende. Er freute sich des Klanges, er fand ihn in\nseinem Wohllaut dem Gegenstande angemessen, wiederholte ihn im Stillen\nund wandte sich befriedigt seinen Briefen und Papieren zu.\n\nSeine kleine Reiseschreibmappe auf den Knien, begann er, mit dem\nFüllfederhalter diese und jene Korrespondenz zu erledigen. Aber nach\neiner Viertelstunde schon fand er es schade, die Situation, die\ngenießenswerteste, die er kannte, so im Geist zu verlassen und durch\ngleichgültige Tätigkeit zu versäumen. Er warf das Schreibzeug\nbeiseite, er kehrte zum Meere zurück, und nicht lange, so wandte er,\nabgelenkt von den Stimmen der Jugend am Sandbau, den Kopf bequem an\nder Lehne des Stuhles nach rechts, um sich nach dem Treiben und\nBleiben des trefflichen Adgio wieder umzutun.\n\nDer erste Blick fand ihn; die rote Masche auf seiner Brust war nicht\nzu verfehlen. Mit anderen beschäftigt, eine alte Planke als Brücke\nüber den feuchten Graben der Sandburg zu legen, gab er rufend und mit\ndem Kopfe winkend seine Anweisungen zu diesem Werk. Es waren da mit\nihm ungefähr zehn Genossen, Knaben und Mädchen, von seinem Alter und\neinige jünger, die in Zungen, polnisch, französisch und auch in\nBalkan-Idiomen durcheinander schwatzten. Aber sein Name war es, der am\nöftesten erklang. Offenbar war er begehrt, umworben, bewundert. Einer\nnamentlich, Pole gleich ihm, ein stämmiger Bursche, der ähnlich wie\n»Jaschu« gerufen wurde, mit schwarzem, pomadisiertem Haar und leinenem\nGürtelanzug, schien sein nächster Vasall und Freund. Sie gingen, als\nfür diesmal die Arbeit am Sandbau beendigt war, umschlungen den Strand\nentlang, und der, welcher »Jaschu« gerufen wurde, küßte den Schönen.\n\nAschenbach war versucht, ihm mit dem Finger zu drohen. »Dir aber rat\nich Kritobulos«, dachte er lächelnd, »geh ein Jahr auf Reisen! Denn\nsoviel brauchst du mindestens Zeit zur Genesung.« Und dann frühstückte\ner große, vollreife Erdbeeren, die er von einem Händler erstand. Es\nwar sehr warm geworden, obgleich die Sonne die Dunstschicht des\nHimmels nicht zu durchdringen vermochte. Trägheit fesselte den Geist,\nindes die Sinne die ungeheure und betäubende Unterhaltung der\nMeeresstille genossen. Zu erraten, zu erforschen, welcher Name es sei,\nder ungefähr »Adgio« lautete, schien dem ernsten Mann eine\nangemessene, vollkommen ausfüllende Aufgabe und Beschäftigung. Und mit\nHilfe einiger polnischer Erinnerungen stellte er fest, daß »Tadzio«\ngemeint sein müsse, die Abkürzung von »Tadeusz« und im Anrufe »Tadziu«\nlautend. Tadzio badete. Aschenbach, der ihn aus den Augen verloren\nhatte, entdeckte seinen Kopf, seinen Arm, mit dem er rudernd ausholte,\nweit draußen im Meer; denn das Meer mochte flach sein bis weit hinaus.\nAber schon schien man besorgt um ihn, schon riefen Frauenstimmen nach\nihm von den Hütten, stießen wiederum diesen Namen aus, der den Strand\nbeinahe wie eine Losung beherrschte und mit seinen weichen Mitlauten,\nseinem gezogenen u-Ruf am Ende, etwas zugleich Süßes und Wildes hatte:\n»Tadziu, Tadziu!« Er gehorchte, er lief, das widerstrebende Wasser mit\nden Beinen zu Schaum schlagend, zurückgeworfenen Kopfes durch die\nFlut; und zu sehen, wie die lebendige Gestalt, vormännlich hold und\nherb, mit triefenden Locken und schön wie ein zarter Gott, herkommend\naus den Tiefen von Himmel und Meer, dem Elemente entstieg und entrann:\nDieser Anblick gab mythische Vorstellungen ein, er war wie\nDichterkunde von anfänglichen Zeiten, vom Ursprung der Form und von\nder Geburt der Götter. Aschenbach lauschte mit geschlossenen Augen auf\ndiesen in seinem Innern antönenden Gesang; und abermals dachte er, daß\nes hier gut sei und daß er bleiben wolle.\n\nSpäter lag Tadzio, vom Bade ausruhend, im Sande, gehüllt in sein\nweißes Laken, das unter der rechten Schulter durchgezogen war, den\nKopf auf den bloßen Arm gebettet; und auch wenn Aschenbach ihn nicht\nbetrachtete, sondern einige Seiten in seinem Buche las, vergaß er fast\nniemals, daß jener dort lag und daß es ihn nur eine leichte Wendung\ndes Kopfes nach rechts kostete, um das Bewunderungswürdige zu\nerblicken. Beinahe schien es ihm, als säße er hier, um den Ruhenden zu\nbehüten,--mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt und dabei doch in\nbeständiger Wachsamkeit für das edle Menschenbild dort zur Rechten,\nnicht weit von ihm. Und eine väterliche Huld, die gerührte Hinneigung\ndessen, der sich opfernd im Geiste das Schöne zeugt, zu dem, der die\nSchönheit hat, erfüllte und bewegte sein Herz.\n\nNach Mittag verließ er den Strand, kehrte ins Hotel zurück und ließ\nsich hinauf vor sein Zimmer fahren. Er verweilte dort drinnen längere\nZeit vor dem Spiegel und betrachtete sein graues Haar, sein müdes und\nscharfes Gesicht. In diesem Augenblick dachte er an seinen Ruhm und\ndaran, daß Viele ihn auf den Straßen kannten und ehrerbietig\nbetrachteten, um seines sicher treffenden und mit Anmut gekrönten\nWortes willen,--rief alle, äußeren Erfolge seines Talentes auf, die\nihm irgend einfallen wollten und gedachte sogar seiner Nobilitierung.\nEr begab sich dann zum Lunch hinab in den Saal und speiste an seinem\nTischchen. Als er nach beendeter Mahlzeit den Lift bestieg, drängte\njunges Volk, das gleichfalls vom Frühstück kam, ihm nach in das\nschwebende Kämmerchen, und auch Tadzio trat ein. Er stand ganz nahe\nbei Aschenbach, zum ersten Male so nah, daß dieser ihn nicht in\nbildmäßigem Abstand, sondern genau, mit den Einzelheiten seiner\nMenschlichkeit wahrnahm und erkannte. Der Knabe ward angeredet von\nirgend jemandem, und während er mit unbeschreiblich lieblichem Lächeln\nantwortete, trat er schon wieder aus, im ersten Stockwerk, rückwärts,\nmit niedergeschlagenen Augen. Schönheit macht schamhaft, dachte\nAschenbach und bedachte sehr eindringlich, warum. Er hatte jedoch\nbemerkt, daß Tadzios Zähne nicht recht erfreulich waren: etwas zackig\nund blaß, ohne den Schmelz der Gesundheit und von eigentümlich spröder\nDurchsichtigkeit wie zuweilen bei Bleichsüchtigen. Er ist sehr zart,\ner ist kränklich, dachte Aschenbach. Er wird wahrscheinlich nicht alt\nwerden. Und er verzichtete darauf, sich Rechenschaft über ein Gefühl\nder Genugtuung oder Beruhigung zu geben, das diesen Gedanken\nbegleitete.\n\nEr verbrachte zwei Stunden auf seinem Zimmer und fuhr am Nachmittag\nmit dem Vaporetto über die faulriechende Lagune nach Venedig. Er stieg\naus bei San Marco, nahm den Tee auf dem Platze und trat dann, seiner\nhiesigen Tagesordnung gemäß, einen Spaziergang durch die Straßen an.\nEs war jedoch dieser Gang, der einen völligen Umschwung seiner\nStimmung, seiner Entschlüsse herbeiführte.\n\nEine widerliche Schwüle lag in den Gassen, die Luft war so dick, daß\ndie Gerüche, die aus Wohnungen, Läden, Garküchen quollen, Öldunst,\nWolken von Parfüm und viele andere in Schwaden standen, ohne sich zu\nzerstreuen. Zigarettenrauch hing an seinem Orte und entwich nur\nlangsam. Das Menschengeschiebe in der Enge belästigte den\nSpaziergänger, statt ihn zu unterhalten. Je länger er ging, desto\nquälender bemächtigte sich seiner der abscheuliche Zustand, den die\nSeeluft zusammen mit dem Scirocco hervorbringen kann, und der zugleich\nErregung und Erschlaffung ist. Peinlicher Schweiß brach ihm aus. Die\nAugen versagten den Dienst, die Brust war beklommen, er fieberte, das\nBlut pochte im Kopf. Er floh aus den drangvollen Geschäftsgassen über\nBrücken in die Gänge der Armen: dort behelligten ihn Bettler, und die\nüblen Ausdünstungen der Kanäle verleideten das Atmen. Auf stillem\nPlatz, einer jener vergessen und verwunschen anmutenden Örtlichkeiten,\ndie sich im Innern Venedigs finden, am Rande eines Brunnens rastend,\ntrocknete er die Stirn und sah ein, daß er reisen müsse.\n\nZum zweitenmal und nun endgültig war es erwiesen, daß diese Stadt bei\ndieser Witterung ihm höchst schädlich war. Eigensinniges Ausharren\nerschien vernunftwidrig, die Aussicht auf ein Umschlagen des Windes\nganz ungewiß. Es galt rasche Entscheidung. Schon jetzt nach Hause\nzurückzukehren, verbot sich. Weder Sommer-noch Winterquartier war\nbereit, ihn aufzunehmen. Aber nicht nur hier gab es Meer und Strand,\nund anderwärts fanden sie sich ohne die böse Zutat der Lagune und\nihres Fieberdunstes. Er erinnerte sich eines kleinen Seebades nicht\nweit von Triest, das man ihm rühmlich genannt hatte. Warum nicht\ndorthin? Und zwar ohne Verzug, damit der abermalige Aufenthaltswechsel\nsich noch lohne. Er erklärte sich für entschlossen und stand auf. Am\nnächsten Gondelhalteplatz nahm er ein Fahrzeug und ließ sich durch das\ntrübe Labyrinth der Kanäle, unter zierlichen Marmorbalkonen hin, die\nvon Löwenbildern flankiert waren, um glitschige Mauerecken, vorbei an\ntrauernden Palastfassaden, die große Firmenschilder im Abfall\nschaukelnden Wasser spiegelten, nach San Marco leiten. Er hatte Mühe,\ndorthin zu gelangen, denn der Gondolier, der mit Spitzenfabriken und\nGlasbläsereien im Bunde stand, versuchte überall, ihn zu Besichtigung\nund Einkauf abzusetzen, und wenn die bizarre Fahrt durch Venedig\nihren Zauber zu üben begann, so tat der beutelschneiderische\nGeschäftsgeist der gesunkenen Königin das seine, den Sinn wieder\nverdrießlich zu ernüchtern.\n\nIns Hotel zurückgekehrt, gab er noch vor dem Diner im Bureau die\nErklärung ab, daß unvorhergesehene Umstände ihn nötigten, morgen früh\nabzureisen. Man bedauerte, man quittierte seine Rechnung. Er speiste\nund verbrachte den lauen Abend, Journale lesend, in einem\nSchaukelstuhl auf der rückwärtigen Terrasse. Bevor er zur Ruhe ging,\nmachte er sein Gepäck vollkommen zur Abreise fertig.\n\nEr schlief nicht zum besten, da der bevorstehende Wiederaufbruch ihn\nbeunruhigte. Als er am Morgen die Fenster öffnete, war der Himmel\nbezogen nach wie vor, aber die Luft schien frischer, und--es begann\nauch schon seine Reue. War diese Kündigung nicht überstürzt und\nirrtümlich, die Handlung eines kranken und unmaßgeblichen Zustandes\ngewesen? Hätte er sie ein wenig zurückbehalten, hätte er es, ohne so\nrasch zu verzagen, auf den Versuch einer Anpassung an die\nvenezianische Luft oder auf Besserung des Wetters ankommen lassen, so\nstand ihm jetzt, statt Hast und Last, ein Vormittag am Strande gleich\ndem gestrigen bevor. Zu spät. Nun mußte er fortfahren, zu wollen, was\ner gestern gewollt hatte. Er kleidete sich an und fuhr um acht Uhr zum\nFrühstück ins Erdgeschoß hinab.\n\nDer Büfettraum war, als er eintrat, noch leer von Gästen. Einzelne\nkamen, während er saß und das Bestellte erwartete. Die Teetasse am\nMunde, sah er die polnischen Mädchen nebst ihrer Begleiterin sich\neinfinden; streng und morgenfrisch, mit geröteten Augen schritten sie\nzu ihrem Tisch in der Fensterecke. Gleich darauf näherte sich ihm der\nPortier mit gezogener Mütze und mahnte zum Aufbruch. Das Automobil\nstehe bereit, ihn und andere Reisende nach dem Hotel \"Excelsior\" zu\nbringen, von wo das Motorboot die Herrschaften durch den Privatkanal\nder Gesellschaft zum Bahnhof befördern werde. Die Zeit dränge.\n--Aschenbach fand, daß sie das nicht im mindesten tue. Mehr als eine\nStunde blieb bis zur Abfahrt seines Zuges. Er ärgerte sich an der\nGasthofsitte, den Abreisenden vorzeitig aus dem Hause zu schaffen und\nbedeutete dem Portier, daß er in Ruhe zu frühstücken wünsche. Der Mann\nzog sich zögernd zurück, um nach fünf Minuten wieder aufzutreten.\nUnmöglich, daß der Wagen länger warte. Dann möge er fahren und seinen\nKoffer mitnehmen, entgegnete Aschenbach gereizt. Er selbst wolle zur\ngegebenen Zeit das öffentliche Dampfboot benutzen und bitte, die Sorge\num sein Fortkommen ihm selber zu überlassen. Der Angestellte verbeugte\nsich. Aschenbach, froh, die lästigen Mahnungen abgewehrt zu haben,\nbeendete seinen Imbiß ohne Eile, ja ließ sich sogar noch vom Kellner\nTagesblätter reichen. Die Zeit war recht knapp geworden, als er\naufstand. Es fügte sich, daß im selben Augenblick Tadzio durch die\nGlastür hereinkam.\n\nEr kreuzte, zum Tische der Seinen gehend, den Weg des Aufbrechenden,\nschlug vor dem grauhaarigen, hochgestirnten Mann bescheiden die Augen\nnieder, um sie nach seiner lieblichen Art sogleich wieder weich und\nvoll zu ihm aufzuschlagen und war vorüber. Adieu, Tadzio! dachte\nAschenbach. Ich sah dich kurz. Und indem er gegen seine Gewohnheit das\nGedachte wirklich mit den Lippen ausbildete und vor sich hinsprach,\nfügte er hinzu: Sei gesegnet!--Er hielt dann Abreise, verteilte\nTrinkgelder, ward von dem kleinen leisen Manager im französischen\nGehrock verabschiedet und verließ das Hotel zu Fuß, wie er gekommen,\num sich, gefolgt von dem Handgepäck tragenden Hausdiener, durch die\nweiß blühende Allee quer über die Insel zur Dampferbrücke zu begeben.\nEr erreicht sie, er nimmt Platz,--und was folgte, war eine\nLeidensfahrt, kummervoll, durch alle Tiefen der Reue.\n\nEs war die vertraute Fahrt über die Lagune, an San Marco vorbei, den\ngroßen Kanal hinauf. Aschenbach saß auf der Rundbank am Buge, den Arm\naufs Geländer gestützt, mit der Hand die Augen beschattend. Die\nöffentlichen Gärten blieben zurück, die Piazzetta eröffnete sich noch\neinmal in fürstlicher Anmut und ward verlassen, es kam die große\nFlucht der Paläste, und als die Wasserstraße sich wendete, erschien\ndes Rialto prächtig gespannter Marmorbogen. Der Abschiednehmende\nschaute, und seine Brust war zerrissen. Die Atmosphäre der Stadt,\ndiesen leis fauligen Geruch von Meer und Sumpf, den zu fliehen es ihn\nso sehr gedrängt hatte,--er atmete ihn jetzt in tiefen, zärtlich\nschmerzlichen Zügen. War es möglich, daß er nicht gewußt, nicht\nbedacht hatte, wie sehr sein Herz an dem allen hing? Was heute morgen\nein halbes Bedauern, ein leiser Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns\ngewesen war, das wurde jetzt zum Harm, zum wirklichen Weh, zu einer\nSeelennot, so bitter, daß sie ihm mehrmals Tränen in die Augen trieb,\nund von der er sich sagte, daß er sie unmöglich habe vorhersehen\nkönnen. Was er als so schwer erträglich, ja, zuweilen als völlig\nunleidlich empfand, war offenbar der Gedanke, daß er Venedig nie\nwieder sehen solle, daß dies ein Abschied für immer sei. Denn da sich\nzum zweiten Male gezeigt hatte, daß die Stadt ihn krank mache, da er\nsie zum zweiten Male jäh zu verlassen gezwungen war, so hatte er sie\nja fortan als einen ihm unmöglichen und verbotenen Aufenthalt zu\nbetrachten, dem er nicht gewachsen war und den wieder aufzusuchen\nsinnlos gewesen wäre. Ja, er empfand, daß, wenn er jetzt abreise,\nScham und Trotz ihn hindern müßten, die geliebte Stadt je wieder zu\nsehen, der gegenüber er zweimal körperlich versagt hatte; und dieser\nStreitfall zwischen seelischer Neigung und körperlichem Vermögen\nschien dem Alternden auf einmal so schwer und wichtig, die physische\nNiederlage so schmählich, so um jeden Preis hintanzuhalten, daß er die\nleichtfertige Ergebung nicht begriff, mit welcher er gestern, ohne\nernstlichen Kampf, sie zu tragen und anzuerkennen beschlossen hatte.\n\nUnterdessen nähert sich das Dampfboot dem Bahnhof, und Schmerz\nund Ratlosigkeit steigen bis zur Verwirrung. Die Abreise dünkt dem\nGequälten unmöglich, die Umkehr nicht minder. So ganz zerrissen\nbetritt er die Station. Es ist sehr spät, er hat keinen Augenblick zu\nverlieren, wenn er den Zug erreichen will. Er will es und will es\nnicht. Aber die Zeit drängt, sie geißelt ihn vorwärts; er eilt, sich\nsein Billett zu verschaffen und sieht sich im Tumult der Halle nach\ndem hier stationierten Beamten der Hotelgesellschaft um. Der Mensch\nzeigt sich und meldet, der große Koffer sei aufgegeben. Schon\naufgegeben? Ja, bestens,--nach Como. Nach Como? Und aus einem\nhastigen Hin und Her, aus zornigen Fragen und betretenen Antworten\nkommt zu Tage, daß der Koffer, schon im Gepäckbeförderungs-Amt des\nHotels »Excelsior« zusammen mit anderer, fremder Bagage, in völlig\nfalsche Richtung geleitet wurde.\n\nAschenbach hatte Mühe, die Miene zu bewahren, die unter diesen\nUmständen einzig begreiflich war. Eine abenteuerliche Freude, eine\nunglaubliche Heiterkeit erschütterte von innen fast krampfhaft seine\nBrust. Der Angestellte stürzte davon, um möglicherweise den Koffer\nnoch anzuhalten und kehrte, wie zu erwarten gewesen, unverrichteter\nDinge zurück. Da erklärte denn Aschenbach, daß er ohne sein Gepäck\nnicht zu reisen wünsche, sondern umzukehren und das Wiedereintreffen\ndes Stückes im Bäderhotel zu erwarten entschlossen sei. Ob das\nMotorboot der Gesellschaft am Bahnhof liege. Der Mann beteuerte,\nes liege vor der Tür. Er bestimmte in italienischer Suade den\nSchalterbeamten, den gelösten Fahrschein zurückzunehmen, er schwor,\ndaß depeschiert werden, daß nichts gespart und versäumt werden solle,\num den Koffer in Bälde zurückzugewinnen, und--so fand das Seltsame\nstatt, daß der Reisende, zwanzig Minuten nach seiner Ankunft am\nBahnhof, sich wieder im Großen Kanal auf dem Rückweg zum Lido sah.\n\nWunderlich unglaubhaftes, beschämendes, komisch traumartiges\nAbenteuer: Stätten, von denen man eben in tiefster Wehmut Abschied auf\nimmer genommen, vom Schicksal umgewandt und zurückverschlagen, in\nderselben Stunde noch wiederzusehen! Schaum vor dem Buge, drollig\nbehend zwischen Gondeln und Dampfern lavierend, schoß das kleine,\neilfertige Fahrzeug seinem Ziele zu, indes sein Passagier unter der\nMaske ärgerlicher Resignation die ängstlich-übermütige Erregung eines\nentlaufenen Knaben verbarg. Noch immer, von Zeit zu Zeit, ward seine\nBrust bewegt von Lachen über dies Mißgeschick, das, wie er sich sagte,\nein Sonntagskind nicht gefälliger hätte heimsuchen können. Es waren\nErklärungen zu geben, erstaunte Gesichter zu bestehen,--dann war, so\nsagte er sich, alles wieder gut, dann war ein Unglück verhütet, ein\nschwerer Irrtum richtig gestellt, und alles, was er im Rücken zu\nlassen geglaubt hatte, eröffnete sich ihm wieder, war auf beliebige\nZeit wieder sein... Täuschte ihn übrigens die rasche Fahrt oder kam\nwirklich zum Überfluß der Wind nun dennoch vom Meere her?\n\nDie Wellen schlugen gegen die betonierten Wände des schmalen Kanals,\nder durch die Insel zum Hotel »Excelsior« gelegt ist. Ein automobiler\nOmnibus erwartete dort den Wiederkehrenden und führte ihn oberhalb des\ngekräuselten Meeres auf geradem Wege zum Bäder-Hotel. Der kleine\nschnurrbärtige Manager im geschweiften Gehrock kam zur Begrüßung die\nFreitreppe herab.\n\nLeise schmeichelnd bedauerte er den Zwischenfall, nannte ihn äußerst\npeinlich für ihn und das Institut, billigte aber mit Überzeugung\nAschenbachs Entschluß, das Gepäckstück hier zu erwarten. Freilich sei\nsein Zimmer vergeben, ein anderes jedoch, nicht schlechter, sogleich\nzur Verfügung. »Pas de chance, monsieur«, sagte der schweizerische\nLiftführer lächelnd, als man hinaufglitt. Und so wurde der Flüchtling\nwieder einquartiert, in einem Zimmer, das dem vorigen nach Lage und\nEinrichtung fast vollkommen glich.\n\nErmüdet, betäubt von dem Wirbel dieses seltsamen Vormittags, ließ er\nsich, nachdem er den Inhalt seiner Handtasche im Zimmer verteilt, in\neinem Lehnstuhl am offenen Fenster nieder. Das Meer hatte eine\nblaßgrüne Färbung angenommen, die Luft schien dünner und reiner, der\nStrand mit seinen Hütten und Booten farbiger, obgleich der Himmel noch\ngrau war. Aschenbach blickte hinaus, die Hände im Schoß gefaltet,\nzufrieden, wieder hier zu sein, kopfschüttelnd unzufrieden über seinen\nWankelmut, seine Unkenntnis der eigenen Wünsche. So saß er wohl eine\nStunde, ruhend und gedankenlos träumend. Um Mittag erblickte er\nTadzio, der in gestreiftem Leinenanzug mit roter Masche, vom Meere\nher, durch die Strandsperre und die Bretterwege entlang zum Hotel\nzurückkehrte. Aschenbach erkannte ihn aus seiner Höhe sofort, bevor er\nihn eigentlich ins Auge gefaßt, und wollte etwas denken, wie: »Sieh,\nTadzio, da bist ja auch du wieder!« Aber im gleichen Augenblick fühlte\ner, wie der lässige Gruß vor der Wahrheit seines Herzens hinsank und\nverstummte,--fühlte die Begeisterung seines Blutes, die Freude, den\nSchmerz seiner Seele und erkannte, daß ihm um Tadzios willen der\nAbschied so schwer geworden war.\n\nEr saß ganz still, ganz ungesehen an seinem hohen Platze und blickte\nin sich hinein. Seine Züge waren erwacht, seine Brauen stiegen, ein\naufmerksames, neugierig geistreiches Lächeln spannte seinen Mund. Dann\nhob er den Kopf und beschrieb mit beiden, schlaff über die Lehne des\nSessels hinabhängenden Armen eine langsam drehende und hebende\nBewegung, die Handflächen vorwärts kehrend, so, als deute er ein\nÖffnen und Ausbreiten der Arme an. Es war eine bereitwillig willkommen\nheißende, gelassen aufnehmende Gebärde.\n\n\n\n\nViertes Kapitel\n\n\nNun lenkte Tag für Tag der Gott mit den hitzigen Wangen nackend sein\ngluthauchendes Viergespann durch die Räume des Himmels und sein gelbes\nGelock flatterte im zugleich ausstürmenden Ostwind. Weißlich seidiger\nGlanz lag auf den Weiten des träge wallenden Pontos. Der Sand glühte.\nUnter der silbrig flirrenden Bläue des Äthers waren rostfarbene\nSegeltücher vor den Strandhütten ausgespannt, und auf dem scharf\numgrenzten Schattenfleck, den sie boten, verbrachte man die\nVormittagsstunden. Aber köstlich war auch der Abend, wenn die Pflanzen\ndes Parks balsamisch dufteten, die Gestirne droben ihren Reigen\nschritten und das Murmeln des umnachteten Meeres, leise\nheraufdringend, die Seele besprach. Solch ein Abend trug in sich die\nfreudige Gewähr eines neuen Sonnentages von leicht geordneter Muße und\ngeschmückt mit zahllosen, dicht beieinander liegenden Möglichkeiten\nlieblichen Zufalls.\n\nDer Gast, den ein so gefügiges Mißgeschick hier festgehalten, war weit\nentfernt, in der Rückgewinnung seiner Habe einen Grund zu erneutem\nAufbruch zu sehen. Er hatte zwei Tage lang einige Entbehrung dulden\nund zu den Mahlzeiten im großen Speisesaal im Reiseanzug erscheinen\nmüssen. Dann, als man endlich die verirrte Last wieder in seinem\nZimmer niedersetzte, packte er gründlich aus und füllte Schrank und\nSchubfächer mit dem Seinen, entschlossen zu vorläufig unabsehbarem\nVerweilen, vergnügt, die Stunden des Strandes in seidenem Anzug\nverbringen und beim Diner sich wieder in schicklicher Abendtracht an\nseinem Tischchen zeigen zu können.\n\nDer wohlige Gleichtakt dieses Daseins hatte ihn schon in seinen Bann\ngezogen, die weiche und glänzende Milde dieser Lebensführung ihn rasch\nberückt. Welch ein Aufenthalt in der Tat, der die Reize eines\ngepflegten Badelebens an südlichem Strande mit der traulich bereiten\nNähe der wunderlich-wundersamen Stadt verbindet! Aschenbach liebte\nnicht den Genuß. Wann immer und wo es galt, zu feiern, der Ruhe zu\npflegen, sich gute Tage zu machen, verlangte ihn bald--und namentlich\nin jüngeren Jahren war dies so gewesen--mit Unruhe und Widerwillen\nzurück in die hohe Mühsal, den heilig nüchternen Dienst seines\nAlltags. Nur dieser Ort verzauberte ihn, entspannte sein Wollen,\nmachte ihn glücklich. Manchmal vormittags, unter dem Schattentuch\nseiner Hütte, hinträumend über die Bläue des Südmeers, oder bei lauer\nNacht auch wohl, gelehnt in die Kissen der Gondel, die ihn vom\nMarkusplatz, wo er sich lange verweilt, unter dem groß gestirnten\nHimmel heimwärts zum Lido führte--und die bunten Lichter, die\nschmelzenden Klänge der Serenade blieben zurück,--erinnerte er sich\nseines Landsitzes in den Bergen, der Stätte seines sommerlichen\nRingens, wo die Wolken tief durch den Garten zogen, fürchterliche\nGewitter am Abend das Licht des Hauses löschten und die Raben, die er\nfütterte, sich in den Wipfeln der Fichten schwangen. Dann schien es\nihm wohl, als sei er entrückt ins elysische Land, an die Grenzen der\nErde, wo leichtestes Leben den Menschen beschert ist, wo nicht Schnee\nist und Winter noch Sturm und strömender Regen, sondern immer sanft\nkühlenden Anhauch Okeanos aufsteigen läßt und in seliger Muße die Tage\nverrinnen, mühelos, kampflos und ganz nur der Sonne und ihren Festen\ngeweiht.\n\nViel, fast beständig sah Aschenbach den Knaben Tadzio; ein\nbeschränkter Raum, eine jedem gegebene Lebensordnung brachten es mit\nsich, daß der Schöne ihm tagüber mit kurzen Unterbrechungen nahe war.\nEr sah, er traf ihn überall: in den unteren Räumen des Hotels, auf den\nkühlenden Wasserfahrten zur Stadt und von dort zurück, im Gepränge des\nPlatzes selbst und oft noch zwischenein auf Wegen und Stegen, wenn der\nZufall ein Übriges tat. Hauptsächlich aber und mit der glücklichsten\nRegelmäßigkeit bot ihm der Vormittag am Strande ausgedehnte\nGelegenheit, der holden Erscheinung Andacht und Studium zu widmen. Ja,\ndiese Gebundenheit des Glückes, diese täglich-gleichmäßig wieder\nanbrechende Gunst der Umstände war es so recht, was ihn mit\nZufriedenheit und Lebensfreude erfüllte, was ihm den Aufenthalt teuer\nmachte und einen Sonnentag so gefällig hinhaltend sich an den anderen\nreihen ließ.\n\nEr war früh auf, wie sonst wohl bei pochendem Arbeitsdrange, und vor\nden meisten am Strand, wenn die Sonne noch milde war und das Meer weiß\nblendend in Morgenträumen lag. Er grüßte menschenfreundlich den\nWächter der Sperre, grüßte auch vertraulich den barfüßigen Weißbart,\nder ihm die Stätte bereitet, das braune Schattentuch ausgespannt, die\nMöbel der Hütte hinaus auf die Plattform gerückt hatte, und ließ sich\nnieder. Drei Stunden oder vier waren dann sein, in denen die Sonne zur\nHöhe stieg und furchtbare Macht gewann, in denen das Meer tiefer und\ntiefer blaute und in denen er Tadzio sehen durfte.\n\nEr sah ihn kommen, von links, am Rande des Meeres daher, sah ihn von\nrückwärts zwischen den Hütten hervortreten oder fand auch wohl\nplötzlich und nicht ohne ein frohes Erschrecken, daß er sein Kommen\nversäumt und daß er schon da war, schon in dem blau und weißen\nBadeanzug, der jetzt am Strand seine einzige Kleidung war, sein\ngewohntes Treiben in Sonne und Sand wieder aufgenommen hatte,--dies\nlieblich nichtige, müßig unstete Leben, das Spiel war und Ruhe, ein\nSchlendern, Waten, Graben, Haschen, Lagern und Schwimmen, bewacht,\nberufen von den Frauen auf der Plattform, die mit Kopfstimmen seinen\nNamen ertönen ließen: »Tadziu! Tadziu!« und zu denen er mit eifrigem\nGebärdenspiel gelaufen kam, ihnen zu erzählen, was er erlebt, ihnen\nzu zeigen, was er gefunden, gefangen: Muscheln, Seepferdchen, Quallen\nund seitlich laufende Krebse. Aschenbach verstand nicht ein Wort von\ndem, was er sagte, und mochte es das Alltäglichste sein, es war\nverschwommener Wohllaut in seinem Ohr. So erhob Fremdheit des Knaben\nRede zur Musik, eine übermütige Sonne goß verschwenderischen Glanz\nüber ihn aus, und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner\nErscheinung Folie und Hintergrund.\n\nBald kannte der Betrachtende jede Linie und Pose dieses so gehobenen,\nso frei sich darstellenden Körpers, begrüßte freudig jede schon\nvertraute Schönheit aufs Neue und fand der Bewunderung, der zarten\nSinneslust kein Ende. Man rief den Knaben, einen Gast zu begrüßen, der\nden Frauen bei der Hütte aufwartete; er lief herbei, lief naß\nvielleicht aus der Flut, er warf die Locken, und indem er die Hand\nreichte, auf einem Beine ruhend, den anderen Fuß auf die Zehenspitzen\ngestellt, hatte er eine reizende Drehung und Wendung des Körpers,\nanmutig spannungsvoll, verschämt aus Liebenswürdigkeit, gefallsüchtig\naus adeliger Pflicht. Er lag ausgestreckt, das Badetuch um die Brust\ngeschlungen, den zart gemeißelten Arm in den Sand gestützt, das Kinn\nin der hohlen Hand; der, welcher »Jaschu« gerufen wurde, saß kauernd\nbei ihm und tat ihm schön, und nichts konnte bezaubernder sein, als\ndas Lächeln der Augen und Lippen, mit dem der Ausgezeichnete zu dem\nGeringeren, Dienenden aufblickte. Er stand am Rande der See, allein,\nabseits von den Seinen, ganz nahe bei Aschenbach,--aufrecht, die Hände\nim Nacken verschlungen, langsam sich auf den Fußballen schaukelnd, und\nträumte ins Blaue, während kleine Wellen, die anliefen, seine Zehen\nbadeten. Sein honigfarbenes Haar schmiegte sich in Ringeln an die\nSchläfen und in den Nacken, die Sonne erleuchtete den Flaum des oberen\nRückgrates, die feine Zeichnung der Rippen, das Gleichmaß der Brust\ntraten durch die knappe Umhüllung des Rumpfes hervor, seine\nAchselhöhlen waren noch glatt wie bei einer Statue, seine Kniekehlen\nglänzten, und ihr bläuliches Geäder ließ seinen Körper wie aus\nklarerem Stoffe gebildet erscheinen. Welch eine Zucht, welche\nPräzision des Gedankens war ausgedrückt in diesem gestreckten und\njugendlich vollkommenen Leibe! Der strenge und reine Wille jedoch,\nder, dunkel tätig, dies göttliche Bildwerk ans Licht zu treiben\nvermocht hatte,--war er nicht ihm, dem Künstler, bekannt und vertraut?\nWirkte er nicht auch in ihm, wenn er, besonnener Leidenschaft voll,\naus der Marmormasse der Sprache die schlanke Form befreite, die er im\nGeiste geschaut und die er als Standbild und Spiegel geistiger\nSchönheit den Menschen darstellte?\n\nStandbild und Spiegel! Seine Augen umfaßten die edle Gestalt dort am\nRande des Blauen, und in aufschwärmendem Entzücken glaubte er mit\ndiesem Blick das Schöne selbst zu begreifen, die Form als\nGottesgedanken, die eine und reine Vollkommenheit, die im Geiste lebt\nund von der ein menschliches Abbild und Gleichnis hier leicht und hold\nzur Anbetung aufgerichtet war. Das war der Rausch; und unbedenklich,\nja gierig, hieß der alternde Künstler ihn willkommen. Sein Geist\nkreiste, seine Bildung geriet ins Wallen, sein Gedächtnis warf uralte,\nseiner Jugend überlieferte und bis dahin niemals von eigenem Feuer\nbelebte Gedanken auf. Stand nicht geschrieben, daß die Sonne unsere\nAufmerksamkeit von den intellektuellen auf die sinnlichen Dinge\nwendet? Sie betäube und bezaubere, hieß es, Verstand und Gedächtnis,\ndergestalt, daß die Seele vor Vergnügen ihres eigentlichen Zustandes\nganz vergesse und mit staunender Bewunderung an dem schönsten der\nbesonnten Gegenstände hängen bleibe: ja, nur mit Hülfe eines Körpers\nvermöge sie dann noch zu höherer Betrachtung sich zu erheben. Amor\nfürwahr tat es den Mathematikern gleich, die unfähigen Kindern\ngreifbare Bilder der reinen Formen vorzeigen: So auch bediente der\nGott sich, um uns das Geistige sichtbar zu machen, gern der Gestalt\nund Farbe menschlicher Jugend, die er zum Werkzeug der Erinnerung mit\nallem Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann\nwohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten.\n\nSo dachte der Enthusiasmierte; so vermochte er zu empfinden. Und aus\nMeerrausch und Sonnenglast spann sich ihm ein reizendes Bild.\nEs war die alte Platane unfern den Mauern Athens,--war jener\nheilig-schattige, vom Dufte der Kirschbaumblüten erfüllte Ort, den\nWeihbilder und fromme Gaben schmückten zu Ehren der Nymphen und des\nAcheloos. Ganz klar fiel der Bach zu Füßen des breitgeästeten Baums\nüber glatte Kiesel; die Grillen geigten. Auf dem Rasen aber, der sanft\nabfiel, so, daß man im Liegen den Kopf hoch halten konnte, lagerten\nZwei, geborgen hier vor der Glut des Tages: ein Ältlicher und ein\nJunger, ein Häßlicher und ein Schöner, der Weise beim Liebenswürdigen.\nUnd unter Artigkeiten und geistreich werbenden Scherzen belehrte\nSokrates den Phaidros über Sehnsucht und Tugend. Er sprach ihm von dem\nheißen Erschrecken, das der Fühlende leidet, wenn sein Auge ein\nGleichnis der ewigen Schönheit erblickt; sprach ihm von den Begierden\ndes Weihelosen und Schlechten, der die Schönheit nicht denken kann,\nwenn er ihr Abbild sieht, und der Ehrfurcht nicht fähig ist; sprach\nvon der heiligen Angst, die den Edlen befällt, wenn ein gottgleiches\nAntlitz, ein vollkommener Leib ihm erscheint, er dann aufbebt und\naußer sich ist und hinzusehen sich kaum getraut und den verehrt, der\ndie Schönheit hat, ja, ihm opfern würde, wie einer Bildsäule, wenn er\nnicht fürchten müßte, den Menschen närrisch zu scheinen. Denn die\nSchönheit, mein Phaidros, nur sie, ist liebenswürdig und sichtbar\nzugleich: sie ist, merke das wohl! die einzige Form des Geistigen,\nwelche wir sinnlich empfangen, sinnlich ertragen können. Oder was\nwürde aus uns, wenn das Göttliche sonst, wenn Vernunft und Tugend und\nWahrheit uns sinnlich erscheinen wollten? Würden wir nicht vergehen\nund verbrennen vor Liebe, wie Semele einstmals vor Zeus? So ist die\nSchönheit der Weg des Fühlenden zum Geiste,--nur der Weg, ein Mittel\nnur, kleiner Phaidros... Und dann sprach er das Feinste aus, der\nverschlagene Hofmacher: Dies, daß der Liebende göttlicher sei, als der\nGeliebte, weil in jenem der Gott sei nicht aber im andern,--diesen\nzärtlichsten, spöttischsten Gedanken vielleicht, der jemals gedacht\nward, und dem alle Schalkheit und heimlichste Wollust der Sehnsucht\nentspringt. Glück des Schriftstellers ist der Gedanke, der ganz\nGefühl, ist das Gefühl, das ganz Gedanke zu werden vermag. Solch ein\npulsender Gedanke, solch genaues Gefühl gehörte und gehorchte dem\nEinsamen damals: nämlich, daß die Natur vor Wonne erschaure, wenn der\nGeist sich huldigend vor der Schönheit neige. Er wünschte plötzlich,\nzu schreiben. Zwar liebt Eros, heißt es, den Müßiggang, und für\nsolchen nur ist er geschaffen. Aber an diesem Punkte der Krisis war\ndie Erregung des Heimgesuchten auf Produktion gerichtet. Fast\ngleichgültig der Anlaß. Eine Frage, eine Anregung, über ein gewisses\ngroßes und brennendes Problem der Kultur und des Geschmackes sich\nbekennend vernehmen zu lassen, war in die geistige Welt ergangen und\nbei dem Verreisten eingelaufen. Der Gegenstand war ihm geläufig, war\nihm Erlebnis; sein Gelüst, ihn im Licht seines Wortes erglänzen zu\nlassen, auf einmal unwiderstehlich. Und zwar ging sein Verlangen\ndahin, in Tadzios Gegenwart zu arbeiten, beim Schreiben den Wuchs des\nKnaben zum Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers\nfolgen zu lassen, der ihm göttlich schien, und seine Schönheit ins\nGeistige zu tragen, wie der Adler einst den troischen Hirten zum Äther\ntrug. Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt,\ndaß Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen Stunden,\nin denen er, an seinem rohen Tische unter dem Schattentuch, im\nAngesicht des Idols und die Musik seiner Stimme im Ohr, nach Tadzios\nSchönheit seine kleine Abhandlung,--jene anderthalb Seiten erlesener\nProsa formte, deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannung\nbinnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte. Es ist sicher\ngut, daß die Welt nur das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge,\nnicht seine Entstehungsbedingungen kennt; denn die Kenntnis der\nQuellen, aus denen dem Künstler Eingebung floß, würde sie oftmals\nverwirren, abschrecken und so die Wirkungen des Vortrefflichen\naufheben. Sonderbare Stunden! Sonderbar entnervende Mühe! Seltsam\nzeugender Verkehr des Geistes mit einem Körper! Als Aschenbach seine\nArbeit verwahrte und vom Strande aufbrach, fühlte er sich erschöpft,\nja zerrüttet, und ihm war, als ob sein Gewissen wie nach einer\nAusschweifung Klage führe.\n\nEs war am folgenden Morgen, daß er, im Begriff das Hotel zu verlassen,\nvon der Freitreppe aus gewahrte, wie Tadzio, schon unterwegs zum\nMeere--und zwar allein,--sich eben der Strandsperre näherte. Der\nWunsch, der einfache Gedanke, die Gelegenheit zu nutzen und mit dem,\nder ihm unwissentlich so viel Erhebung und Bewegung bereitet, leichte,\nheitere Bekanntschaft zu machen, ihn anzureden, sich seiner Antwort,\nseines Blickes zu erfreuen, lag nahe und drängte sich auf. Der Schöne\nging schlendernd, er war einzuholen, und Aschenbach beschleunigte\nseine Schritte. Er erreicht ihn auf dem Brettersteig hinter den\nHütten, er will ihm die Hand aufs Haupt, auf die Schulter legen und\nirgend ein Wort, eine freundliche französische Phrase schwebt ihm auf\nden Lippen: da fühlt er, daß sein Herz, vielleicht auch vom schnellen\nGang, wie ein Hammer schlägt, daß er, so knapp bei Atem, nur gepreßt\nund bebend wird sprechen können; er zögert, er sucht sich zu\nbeherrschen, er fürchtet plötzlich, schon zu lange dicht hinter dem\nSchönen zu gehen, fürchtet sein Aufmerksamwerden, sein fragendes\nUmschauen, nimmt noch einen Anlauf, versagt, verzichtet und geht\ngesenkten Hauptes vorüber.\n\nZu spät! dachte er in diesem Augenblick. Zu spät! Jedoch war es zu\nspät? Dieser Schritt, den zu tun er versäumte, er hätte sehr\nmöglicherweise zum Guten, Leichten und Frohen, zu heilsamer\nErnüchterung geführt. Allein es war wohl an dem, daß der Alternde die\nErnüchterung nicht wollte, daß der Rausch ihm zu teuer war. Wer\nenträtselt Wesen und Gepräge des Künstlertums! Wer begreift die tiefe\nInstinktverschmelzung von Zucht und Zügellosigkeit, worin es beruht!\nDenn heilsame Ernüchterung nicht wollen zu können, ist Zügellosigkeit.\nAschenbach war zur Selbstkritik nicht mehr aufgelegt; der Geschmack,\ndie geistige Verfassung seiner Jahre, Selbstachtung, Reife und späte\nEinfachheit machten ihn nicht geneigt, Beweggründe zu zergliedern und\nzu entscheiden, ob er aus Gewissen, ob aus Liederlichkeit und Schwäche\nsein Vorhaben nicht ausgeführt habe. Er war verwirrt, er fürchtete,\ndaß irgend jemand, wenn auch der Strandwächter nur, seinen Lauf, seine\nNiederlage beobachtet haben möchte, fürchtete sehr die Lächerlichkeit.\nIm übrigen scherzte er bei sich selbst über seine komisch-heilige\nAngst. »Bestürzt«, dachte er, »bestürzt wie ein Hahn, der angstvoll\nseine Flügel im Kampfe hängen läßt. Das ist wahrlich der Gott, der\nbeim Anblick des Liebenswürdigen so unseren Mut bricht und unsern\nstolzen Sinn so gänzlich zu Boden drückt...« Er spielte, schwärmte und\nwar viel zu hochmütig, um ein Gefühl zu fürchten.\n\nSchon überwachte er nicht mehr den Ablauf der Mußezeit, die er sich\nselber gewährt; der Gedanke an Heimkehr berührte ihn nicht einmal. Er\nhatte sich reichlich Geld verschrieben. Seine Besorgnis galt einzig\nder möglichen Abreise der polnischen Familie; doch hatte er unter der\nHand, durch beiläufige Erkundigung beim Coiffeur des Hotels, erfahren,\ndaß diese Herrschaften ganz kurz vor seiner eigenen Ankunft hier\nabgestiegen seien. Die Sonne bräunte ihm Antlitz und Hände, der\nerregende Salzhauch stärkte ihn zum Gefühl, und wie er sonst jede\nErquickung, die Schlaf, Nahrung oder Natur ihm gespendet, sogleich an\nein Werk zu verausgaben gewohnt war, so ließ er nun alles, was Sonne,\nMuße und Meerluft ihm an täglicher Kräftigung zuführten,\nhochherzig-unwirtschaftlich aufgehen in Rausch und Empfindung.\n\nSein Schlaf war flüchtig; die köstlich einförmigen Tage waren getrennt\ndurch kurze Nächte voll glücklicher Unruhe. Zwar zog er sich zeitig\nzurück, denn um neun Uhr, wenn Tadzio vom Schauplatz verschwunden war,\nschien der Tag ihm beendet. Aber ums erste Morgengrauen weckte ihn ein\nzart durchdringendes Erschrecken, sein Herz erinnerte sich seines\nAbenteuers, es litt ihn nicht mehr in den Kissen, er erhob sich, und\nleicht eingehüllt gegen die Schauer der Frühe setzte er sich ans\noffene Fenster, den Aufgang der Sonne zu erwarten. Das wundervolle\nEreignis erfüllte seine vom Schlafe geweihte Seele mit Andacht. Noch\nlagen Himmel, Erde und Meer in geisterhaft glasiger Dämmerblässe; noch\nschwamm ein vergehender Stern im Wesenlosen. Aber ein Wehen kam, eine\nbeschwingte Kunde von unnahbaren Wohnplätzen, daß Eos sich von der\nSeite des Gatten erhebe, und jenes erste, süße Erröten der fernsten\nHimmels-und Meeresstriche geschah, durch welches das Sinnlichwerden\nder Schöpfung sich anzeigt. Die Göttin nahte, die\nJünglingsentführerin, die den Kleitos, den Kephalos raubte und dem\nNeide aller Olympischen trotzend die Liebe des schönen Orion genoß.\nEin Rosenstreuen begann da am Rande der Welt, ein unsäglich holdes\nScheinen und Blühen, kindliche Wolken, verklärt, durchleuchtet,\nschwebten gleich dienenden Amoretten im rosigen, bläulichen Duft,\nPurpur fiel auf das Meer, das ihn wallend vorwärts zu schwemmen\nschien, goldene Speere zuckten von unten zur Höhe des Himmels hinauf,\nder Glanz ward zum Brande, lautlos, mit göttlicher Übergewalt wälzten\nsich Glut und Brunst und lodernde Flammen herauf, und mit raffenden\nHufen stiegen des Bruders heilige Renner über den Erdkreis empor.\nAngestrahlt von der Pracht des Gottes saß der Einsam-Wache, er schloß\ndie Augen und ließ von der Glorie seine Lider küssen. Ehemalige\nGefühle, frühe, köstliche Drangsale des Herzens, die im strengen\nDienst seines Lebens erstorben waren und nun so sonderbar gewandelt\nzurückkehrten,--er erkannte sie mit verwirrtem, verwundertem Lächeln.\nEr sann, er träumte, langsam bildeten seine Lippen einen Namen, und\nnoch immer lächelnd, mit aufwärts gekehrtem Antlitz, die Hände im\nSchöße gefaltet, entschlummerte er in seinem Sessel noch einmal.\n\nAber der Tag, der so feurig-festlich begann, war im ganzen seltsam\ngehoben und mythisch verwandelt. Woher kam und stammte der Hauch, der\nauf einmal so sanft und bedeutend, höherer Einflüsterung gleich,\nSchläfe und Ohr umspielte? Weiße Federwölkchen standen in verbreiteten\nScharen am Himmel, gleich weidenden Herden der Götter. Stärkerer Wind\nerhob sich, und die Rosse Poseidons liefen, sich bäumend, daher,\nStiere auch wohl, dem Bläulichgelockten gehörig, welche mit Brüllen\nanrennend die Hörner senkten. Zwischen dem Felsengeröll des\nentfernteren Strandes jedoch hüpften die Wellen empor als springende\nZiegen. Eine heilig entstellte Welt voll panischen Lebens schloß den\nBerückten ein, und sein Herz träumte zarte Fabeln. Mehrmals, wenn\nhinter Venedig die Sonne sank, saß er auf einer Bank im Park, um\nTadzio zuzuschauen, der sich, weiß gekleidet und farbig gegürtet, auf\ndem gewalzten Kiesplatz mit Ballspiel vergnügte, und Hyakinthos war\nes, den er zu sehen glaubte, und der sterben mußte, weil zwei Götter\nihn liebten. Ja, er empfand Zephyrs schmerzenden Neid auf den\nNebenbuhler, der des Orakels, des Bogens und der Kithara vergaß, um\nimmer mit dem Schönen zu spielen; er sah die Wurfscheibe, von\ngrausamer Eifersucht gelenkt, das liebliche Haupt treffen, er empfing,\nerblassend auch er, den geknickten Leib, und die Blume, dem süßen\nBlute entsprossen, trug die Inschrift seiner unendlichen Klage...\n\nSeltsamer, heikler ist nichts als das Verhältnis von Menschen, die\nsich nur mit den Augen kennen,--die täglich, ja stündlich einander\nbegegnen, beobachten und dabei den Schein gleichgültiger Fremdheit\ngrußlos und wortlos aufrecht zu halten durch Sittenzwang oder eigene\nGrille genötigt sind. Zwischen ihnen ist Unruhe und überreizte\nNeugier, die Hysterie eines unbefriedigten, unnatürlich unterdrückten\nErkenntnis-und Austauschbedürfnisses und namentlich auch eine Art von\ngespannter Achtung. Denn der Mensch liebt und ehrt den Menschen, so\nlange er ihn nicht zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein\nErzeugnis mangelhafter Erkenntnis.\n\nIrgend eine Beziehung und Bekanntschaft mußte sich notwendig ausbilden\nzwischen Aschenbach und dem jungen Tadzio, und mit durchdringender\nFreude konnte der Ältere feststellen, daß Teilnahme und Aufmerksamkeit\nnicht völlig unerwidert blieben. Was bewog zum Beispiel den Schönen,\nniemals mehr, wenn er morgens am Strande erschien, den Brettersteg an\nder Rückseite der Hütten zu benützen, sondern nur noch auf dem\nvorderen Wege, durch den Sand, an Aschenbachs Wohnplatz vorbei und\nmanchmal unnötig dicht an ihm vorbei, seinen Tisch, seinen Stuhl fast\nstreifend, zur Hütte der Seinen zu schlendern? Wirkte so die\nAnziehung, die Faszination eines überlegenen Gefühls auf seinen zarten\nund gedankenlosen Gegenstand? Aschenbach erwartete täglich Tadzios\nAuftreten, und zuweilen tat er, als sei er beschäftigt, wenn es sich\nvollzog, und ließ den Schönen scheinbar unbeachtet vorübergehen.\nZuweilen aber auch blickte er auf, und ihre Blicke trafen sich. Sie\nwaren beide tief ernst, wenn das geschah. In der gebildeten und\nwürdevollen Miene des Älteren verriet nichts eine innere Bewegung;\naber in Tadzios Augen war ein Forschen, ein nachdenkliches Fragen, in\nseinen Gang kam ein Zögern, er blickte zu Boden, er blickte lieblich\nwieder auf, und wenn er vorüber war, so schien ein Etwas in seiner\nHaltung auszudrücken, daß nur Erziehung ihn hinderte, sich umzuwenden.\n\nEinmal jedoch, eines Abends, begab es sich anders. Die polnischen\nGeschwister hatten nebst ihrer Gouvernante bei der Hauptmahlzeit im\ngroßen Saale gefehlt,--mit Besorgnis hatte Aschenbach es wahrgenommen.\nEr erging sich nach Tische, sehr unruhig über ihren Verbleib, in\nAbendanzug und Strohhut vor dem Hotel, zu Füßen der Terrasse, als er\nplötzlich die nonnenähnlichen Schwestern mit der Erzieherin und vier\nSchritte hinter ihnen Tadzio im Lichte der Bogenlampen auftauchen sah.\nOffenbar kamen sie von der Dampferbrücke, nachdem sie aus irgendeinem\nGrunde in der Stadt gespeist. Auf dem Wasser war es wohl kühl gewesen;\nTadzio trug eine dunkelblaue Seemanns-Überjacke mit goldenen Knöpfen\nund auf dem Kopf eine zugehörige Mütze. Sonne und Seeluft verbrannten\nihn nicht, seine Hautfarbe war marmorhaft gelblich geblieben wie zu\nBeginn; doch schien er blässer heute als sonst, sei es infolge der\nKühle oder durch den bleichenden Mondschein der Lampen. Seine\nebenmäßigen Brauen zeichneten sich schärfer ab, seine Augen dunkelten\ntief. Er war schöner, als es sich sagen läßt, und Aschenbach empfand\nwie schon oftmals mit Schmerzen, daß das Wort die sinnliche Schönheit\nnur zu preisen, nicht wiederzugeben vermag.\n\nEr war der teuren Erscheinung nicht gewärtig gewesen, sie kam\nunverhofft, er hatte nicht Zeit gehabt, seine Miene zu Ruhe und Würde\nzu befestigen. Freude, Überraschung, Bewunderung mochten sich offen\ndarin malen, als sein Blick dem des Vermißten begegnete,--und in\ndieser Sekunde geschah es, daß Tadzio lächelte: ihn anlächelte,\nsprechend, vertraut, liebreizend und unverhohlen, mit Lippen, die sich\nim Lächeln erst langsam öffneten. Es war das Lächeln des Narziß, der\nsich über das spiegelnde Wasser neigt, jenes tiefe, bezauberte,\nhingezogene Lächeln, mit dem er nach dem Widerschein der eigenen\nSchönheit die Arme streckt,--ein ganz wenig verzerrtes Lächeln,\nverzerrt von der Aussichtslosigkeit seines Trachtens, die holden\nLippen seines Schattens zu küssen, kokett, neugierig und leise\ngequält, betört und betörend.\n\nDer, welcher dies Lächeln empfangen, enteilte damit wie mit einem\nverhängnisvollen Geschenk. Er war so sehr erschüttert, daß er das\nLicht der Terrasse, des Vorgartens, zu fliehen gezwungen war und mit\nhastigen Schritten das Dunkel des rückwärtigen Parkes suchte.\nSonderbar entrüstete und zärtliche Vermahnungen entrangen sich ihm:\n»Du darfst so nicht lächeln! Höre, man darf so niemandem lächeln!« Er\nwarf sich auf eine Bank, er atmete außer sich den nächtlichen Duft der\nPflanzen. Und zurückgelehnt, mit hängenden Armen, überwältigt und\nmehrfach von Schauern überlaufen, flüsterte er die stehende Formel der\nSehnsucht,--unmöglich hier, absurd, verworfen, lächerlich und heilig\ndoch, ehrwürdig auch hier noch: »Ich liebe dich!«\n\n\n\n\nFünftes Kapitel\n\n\nIn der vierten Woche seines Aufenthalts auf dem Lido machte Gustav von\nAschenbach einige die Außenwelt betreffende unheimliche Wahrnehmungen.\nErstens schien es ihm, als ob bei steigender Jahreszeit die Frequenz\nseines Gasthofes eher ab-als zunähme, und, insbesondere, als ob die\ndeutsche Sprache um ihn her versiege und verstumme, so daß bei Tisch\nund am Strand endlich nur noch fremde Laute sein Ohr trafen. Eines\nTages dann fing er beim Coiffeur, den er jetzt häufig besuchte, im\nGespräche ein Wort auf, das ihn stutzig machte. Der Mann hatte einer\ndeutschen Familie erwähnt, die soeben nach kurzem Verweilen abgereist\nwar und setzte plaudernd und schmeichelnd hinzu: »Sie bleiben, mein\nHerr; Sie haben keine Furcht vor dem Übel.« Aschenbach sah ihn an.\n»Dem Übel?« wiederholte er. Der Schwätzer verstummte, tat beschäftigt,\nüberhörte die Frage, und als sie dringlicher gestellt ward, erklärte\ner, er wisse von nichts und suchte mit verlegener Beredsamkeit\nabzulenken.\n\nDas war um Mittag. Nachmittags fuhr Aschenbach bei Windstille und\nschwerem Sonnenbrand nach Venedig; denn ihn trieb die Manie, den\npolnischen Geschwistern zu folgen, die er mit ihrer Begleiterin den\nWeg zur Dampferbrücke hatte einschlagen sehen. Er fand den Abgott\nnicht bei San Marco. Aber beim Tee, an seinem eisernen Rundtischchen\nauf der Schattenseite des Platzes sitzend, witterte er plötzlich in\nder Luft ein eigentümliches Arom, von dem ihm jetzt schien, als habe\nes schon seit Tagen, ohne ihm ins Bewußtsein zu dringen, seinen Sinn\nberührt,--einen süßlich-offizinellen Geruch, der an Elend und Wunden\nund verdächtige Reinlichkeit erinnerte. Er prüfte und erkannte ihn\nnachdenklich, beendete seinen Imbiß und verließ den Platz auf der dem\nTempel gegenüberliegenden Seite. In der Enge verstärkte sich der\nGeruch. An den Straßenecken hafteten gedruckte Anschläge, durch welche\ndie Bevölkerung wegen gewisser Erkrankungen des gastrischen Systems,\ndie bei dieser Witterung an der Tagesordnung seien, vor dem Genusse\nvon Austern und Muscheln, auch vor dem Wasser der Kanäle\nstadtväterlich gewarnt wurde. Die beschönigende Natur des Erlasses war\ndeutlich. Volksgruppen standen schweigsam auf Brücken und Plätzen\nbeisammen; und der Fremde stand spürend und grübelnd unter ihnen.\n\nEinen Ladeninhaber, der zwischen Korallenschnüren und falschen\nAmethyst-Geschmeiden in der Türe seines Gewölbes lehnte, bat er um\nAuskunft über den fatalen Geruch. Der Mann maß ihn mit schweren Augen\nund ermunterte sich hastig. »Eine vorbeugende Maßregel, mein Herr!«\nantwortete er mit Gebärdenspiel. »Eine Verfügung der Polizei, die man\nbilligen muß. Diese Witterung drückt, der Scirocco ist der Gesundheit\nnicht zuträglich. Kurz, Sie verstehen,--eine vielleicht übertriebene\nVorsicht...« Aschenbach dankte ihm und ging weiter. Auch auf dem\nDampfer, der ihn zum Lido zurücktrug, spürte er jetzt den Geruch des\nkeimbekämpfenden Mittels.\n\nIns Hotel zurückgekehrt, begab er sich sogleich in die Halle zum\nZeitungstisch und hielt in den Blättern Umschau. Er fand in den\nfremdsprachigen nichts. Die heimatlichen verzeichneten Gerüchte,\nführten schwankende Ziffern an, gaben amtliche Ableugnungen wieder und\nbezweifelten deren Wahrhaftigkeit. So erklärte sich der Abzug des\ndeutschen und österreichischen Elementes. Die Angehörigen der übrigen\nNationen wußten offenbar nichts, ahnten nichts, waren noch nicht\nbeunruhigt. »Man soll schweigen!« dachte Aschenbach erregt, indem er\ndie Journale auf den Tisch zurückwarf. »Man soll das verschweigen!«\nAber zugleich füllte sein Herz sich mit Genugtuung über das Abenteuer,\nin welches die Außenwelt geraten wollte. Denn der Leidenschaft ist,\nwie dem Verbrechen, die gesicherte Ordnung und Wohlfahrt des Alltags\nnicht gemäß, und jede Lockerung des bürgerlichen Gefüges, jede\nVerwirrung und Heimsuchung der Welt muß ihr willkommen sein, weil sie\nihren Vorteil dabei zu finden unbestimmt hoffen kann. So empfand\nAschenbach eine dunkle Zufriedenheit über die obrigkeitlich\nbemäntelten Vorgänge in den schmutzigen Gäßchen Venedigs,--dieses\nschlimme Geheimnis der Stadt, das mit seinem eigensten Geheimnis\nverschmolz, und an dessen Bewahrung auch ihm so sehr gelegen war. Denn\nder Verliebte besorgte nichts, als daß Tadzio abreisen könnte und\nerkannte nicht ohne Entsetzen, daß er nicht mehr zu leben wissen\nwerde, wenn das geschähe.\n\nNeuerdings begnügte er sich nicht damit, Nähe und Anblick des Schönen\nder Tagesregel und dem Glücke zu danken; er verfolgte ihn, er stellte\nihm nach. Sonntags zum Beispiel erschienen die Polen niemals am\nStrande; er erriet, daß sie die Messe in San Marco besuchten, er eilte\ndorthin, und aus der Glut des Platzes in die goldene Dämmerung des\nHeiligtums eintretend, fand er den Entbehrten, über ein Betpult\ngebeugt beim Gottesdienst. Dann stand er im Hintergrunde, auf\nzerklüftetem Mosaikboden, inmitten knieenden, murmelnden,\nkreuzschlagenden Volkes, und die gedrungene Pracht des\nmorgenländischen Tempels lastete üppig auf seinen Sinnen. Vorn\nwandelte, hantierte und sang der schwergeschmückte Priester, Weihrauch\nquoll auf, er umnebelte die kraftlosen Flämmchen der Altarkerzen, und\nin den dumpfsüßen Opferduft schien sich leise ein anderer zu mischen:\nder Geruch der erkrankten Stadt. Aber durch Dunst und Gefunkel sah\nAschenbach, wie der Schöne dort vorn den Kopf wandte, ihn suchte und\nihn erblickte.\n\nWenn dann die Menge durch die geöffneten Portale hinausströmte auf den\nleuchtenden, von Tauben wimmelnden Platz, verbarg sich der Betörte in\nder Vorhalle, er versteckte sich, er legte sich auf die Lauer. Er sah\ndie Polen die Kirche verlassen, sah, wie die Geschwister sich auf\nzeremoniöse Art von der Mutter verabschiedeten und wie diese sich\nheimkehrend zur Piazzetta wandte; er stellte fest, daß der Schöne, die\nklösterlichen Schwestern und die Gouvernante den Weg zur Rechten durch\ndas Tor des Uhrturmes und in die Merceria einschlugen, und nachdem er\nsie einigen Vorsprung hatte gewinnen lassen, folgte er ihnen, folgte\nihnen verstohlen auf ihrem Spaziergang durch Venedig.\n\nEr mußte stehen bleiben, wenn sie sich verweilten, mußte in Garküchen\nund Höfe flüchten, um die Umkehrenden vorüber zu lassen; er verlor\nsie, suchte erhitzt und erschöpft nach ihnen über Brücken und in\nschmutzigen Sackgassen und erduldete Minuten tödlicher Pein, wenn er\nsie plötzlich in enger Passage, wo kein Ausweichen möglich war, sich\nentgegenkommen sah. Dennoch kann man nicht sagen, daß er litt. Haupt\nund Herz waren ihm trunken, und seine Schritte folgten den Weisungen\ndes Dämons, dem es Lust ist, des Menschen Vernunft und Würde unter\nseine Füße zu treten.\n\nIrgendwo nahmen Tadzio und die Seinen dann wohl eine Gondel, und\nAschenbach, den, während sie einstiegen, ein Vorbau, ein Brunnen\nverborgen gehalten hatte, tat, kurz nachdem sie vom Ufer abgestoßen,\nein Gleiches. Er sprach hastig und gedämpft, wenn er den Ruderer,\nunter dem Versprechen eines reichlichen Trinkgeldes, anwies, jener\nGondel, die eben dort um die Ecke biege, unauffällig in einigem\nAbstand zu folgen; und es überrieselte ihn, wenn der Mensch, mit der\nspitzbübischen Erbötigkeit eines Gelegenheitsmachers, ihm in demselben\nTone versicherte, daß er bedient, daß er gewissenhaft bedient werden\nsolle.\n\nSo glitt und schwankte er denn, in weiche, schwarze Kissen gelehnt,\nder anderen schwarzen, geschnabelten Barke nach, an deren Spur die\nPassion ihn fesselte. Zuweilen entschwand sie ihm: dann fühlte er\nKummer und Unruhe. Aber sein Führer, als sei er in solchen Aufträgen\nwohl geübt, wußte ihm stets durch schlaue Manöver, durch rasche\nQuerfahrten und Abkürzungen das Begehrte wieder vor Augen zu bringen.\nDie Luft war still und riechend, schwer brannte die Sonne durch den\nDunst, der den Himmel schieferig färbte. Wasser schlug glucksend gegen\nHolz und Stein. Der Ruf des Gondoliers, halb Warnung, halb Gruß, ward\nfernher aus der Stille des Labyrinths nach sonderbarer Übereinkunft\nbeantwortet. Aus kleinen, hochliegenden Gärten hingen Blütendolden,\nweiß und purpurn, nach Mandeln duftend, über morsches Gemäuer.\nArabische Fensterumrahmungen bildeten sich im Trüben ab. Die\nMarmorstufen einer Kirche stiegen in die Flut; ein Bettler, darauf\nkauernd, sein Elend beteuernd, hielt seinen Hut hin und zeigte das\nWeiße der Augen, als sei er blind, ein Altertumshändler, vor seiner\nSpelunke, lud den Vorüberziehenden mit kriecherischen Gebärden zum\nAufenthalt ein, in der Hoffnung, ihn zu betrügen. Das war Venedig, die\nschmeichlerische und verdächtige Schöne,--diese Stadt, halb Märchen,\nhalb Fremdenfalle, in deren fauliger Luft die Kunst einst\nschwelgerisch aufwucherte und welche den Musikern Klänge eingab, die\nwiegen und buhlerisch einlullen. Dem Abenteuernden war es, als tränke\nsein Auge dergleichen Üppigkeit, als würde sein Ohr von solchen\nMelodien umworben; er erinnerte sich auch, daß die Stadt krank sei und\nes aus Gewinnsucht verheimliche, und er spähte ungezügelter aus nach\nder voranschwebenden Gondel.\n\nSo wußte und wollte denn der Verwirrte nichts anderes mehr, als den\nGegenstand, der ihn entzündete, ohne Unterlaß zu verfolgen, von ihm\nzu träumen, wenn er abwesend war, und, nach der Weise der Liebenden,\nseinem bloßen Schattenbild zärtliche Worte zu geben. Einsamkeit,\nFremde und das Glück eines späten und tiefen Rausches ermutigten und\nüberredeten ihn, sich auch das Befremdlichste ohne Scheu und Erröten\ndurchgehen zu lassen, wie es denn vorgekommen war, daß er, spät abends\nvon Venedig heimkehrend, im ersten Stock des Hotels an des Schönen\nZimmertür Halt gemacht, seine Stirn in völliger Trunkenheit an die\nAngel der Tür gelehnt und sich lange von dort nicht zu trennen\nvermocht hatte, auf die Gefahr, in einer so wahnsinnigen Lage ertappt\nund betroffen zu werden.\n\nDennoch fehlte es nicht an Augenblicken des Innehaltens und der halben\nBesinnung. Auf welchen Wegen! dachte er dann mit Bestürzung. Auf\nwelchen Wegen! Wie jeder Mann, dem natürliche Verdienste ein\naristokratisches Interesse für seine Abstammung einflößen, war er\ngewohnt, bei den Leistungen und Erfolgen seines Lebens der Vorfahren\nzu gedenken, sich ihrer Zustimmung, ihrer Genugtuung, ihrer\nnotgedrungenen Achtung im Geiste zu versichern. Er dachte ihrer auch\njetzt und hier, verstrickt in ein so unstatthaftes Erlebnis, begriffen\nin so exotischen Ausschweifungen des Gefühls; gedachte der\nhaltungsvollen Strenge, der anständigen Männlichkeit ihres Wesens und\nlächelte schwermütig. Was würden sie sagen? Aber freilich, was hätten\nsie zu seinem ganzen Leben gesagt, das von dem ihren so bis zur\nEntartung abgewichen war, zu diesem Leben im Banne der Kunst, über das\ner selbst einst, im Bürgersinne der Väter, so spöttische\nJünglingserkenntnisse hatte verlauten lassen und das dem ihren im\nGrunde so ähnlich gewesen war! Auch er hatte gedient, auch er sich in\nharter Zucht geübt; auch er war Soldat und Kriegsmann gewesen, gleich\nmanchen von ihnen,--denn die Kunst war ein Krieg, ein aufreibender\nKampf, für welchen man heute nicht lange taugte. Ein Leben der\nSelbstüberwindung und des Trotzdem, ein herbes, standhaftes und\nenthaltsames Leben, das er zum Sinnbild für einen zarten und\nzeitgemäßen Heroismus gestaltet hatte,--wohl durfte er es männlich,\ndurfte es tapfer nennen, und es wollte ihm scheinen, als sei der Eros,\nder sich seiner bemeistert, einem solchen Leben auf irgendeine Weise\nbesonders gemäß und geneigt. Hatte er nicht bei den tapfersten Völkern\nvorzüglich in Ansehen gestanden, ja, hieß es nicht, daß er durch\nTapferkeit in ihren Städten geblüht habe? Zahlreiche Kriegshelden der\nVorzeit hatten willig sein Joch getragen, denn gar keine Erniedrigung\ngalt, die der Gott verhängte, und Taten, die als Merkmale der Feigheit\nwären gescholten worden, wenn sie um anderer Zwecke willen geschehen\nwären: Fußfälle, Schwüre, inständige Bitten und sklavisches Wesen,\nsolche gereichten dem Liebenden nicht zur Schande, sondern er erntete\nvielmehr noch Lob dafür.\n\nSo war des Betörten Denkweise bestimmt, so suchte er sich zu stützen,\nseine Würde zu wahren. Aber zugleich wandte er beständig eine spürende\nund eigensinnige Aufmerksamkeit den unsauberen Vorgängen im Innern\nVenedigs zu, jenem Abenteuer der Außenwelt, das mit dem seines Herzens\ndunkel zusammenfloß und seine Leidenschaft mit unbestimmten,\ngesetzlosen Hoffnungen nährte. Versessen darauf, Neues und Sicheres\nüber Stand oder Fortschritt des Übels zu erfahren, durchstöberte er in\nden Kaffeehäusern der Stadt die heimatlichen Blätter, da sie vom\nLesetisch der Hotelhalle seit mehreren Tagen verschwunden waren.\nBehauptungen und Widerrufe wechselten darin. Die Zahl der\nErkrankungs-, der Todesfälle sollte sich auf zwanzig, auf vierzig, ja\nhundert und mehr belaufen, und gleich darauf wurde jedes Auftreten der\nSeuche wenn nicht rundweg in Abrede gestellt, so doch auf völlig\nvereinzelte, von außen eingeschleppte Fälle zurückgeführt. Warnende\nBedenken, Proteste gegen das gefährliche Spiel der welschen Behörden\nwaren eingestreut. Gewißheit war nicht zu erlangen.\n\nDennoch war sich der Einsame eines besonderen Anrechtes bewußt, an dem\nGeheimnis teil zu haben, und, gleichwohl ausgeschlossen, fand er eine\nbizarre Genugtuung darin, die Wissenden mit verfänglichen Fragen\nanzugehen und sie, die zum Schweigen verbündet waren, zur\nausdrücklichen Lüge zu nötigen. Eines Tages beim Frühstück im großen\nSpeisesaal stellte er so den Geschäftsführer zur Rede, jenen kleinen,\nleise auftretenden Menschen im französischen Gehrock, der sich\ngrüßend und beaufsichtigend zwischen den Speisenden bewegte und auch\nan Aschenbachs Tischchen zu einigen Plauderworten Halt machte. Warum\nman denn eigentlich, fragte der Gast in lässiger und beiläufiger\nWeise, warum in aller Welt, man seit einiger Zeit Venedig\ndesinfiziere?--»Es handelt sich«, antwortete der Schleicher, »um eine\nMaßnahme der Polizei, bestimmt, allerlei Unzuträglichkeiten oder\nStörungen der öffentlichen Gesundheit, welche durch die brütende und\nausnehmend warme Witterung erzeugt werden möchten, pflichtgemäß und\nbeizeiten hintanzuhalten.«--»Die Polizei ist zu loben«, erwiderte\nAschenbach, und nach Austausch einiger meteorologischer Bemerkungen\nempfahl sich der Manager.\n\nSelbigen Tages noch, abends nach dem Diner, geschah es, daß eine\nkleine Bande von Straßensängern aus der Stadt sich im Vorgarten des\nGasthofes hören ließ. Sie standen, zwei Männer und zwei Weiber, an dem\neisernen Mast einer Bogenlampe und wandten ihre weißbeschienenen\nGesichter zur großen Terrasse empor, wo die Kurgesellschaft sich bei\nKaffee und kühlenden Getränken die volkstümliche Darbietung gefallen\nließ. Das Hotelpersonal, Liftboys, Kellner und Angestellte der Office,\nzeigte sich lauschend an den Türen zur Halle. Die russische Familie,\neifrig und genau im Genuß, hatte sich Rohrstühle in den Garten\nhinabstellen lassen, um den Ausübenden näher zu sein, und saß dort\ndankbar im Halbkreise. Hinter der Herrschaft, in turbanartigem\nKopftuch, stand ihre alte Sklavin.\n\nMandoline, Guitarre, Harmonika und eine quinkelierende Geige waren\nunter den Händen der Bettelvirtuosen in Tätigkeit. Mit instrumentalen\nDurchführungen wechselten Gesangsnummern, wie denn das jüngere der\nWeiber, scharf und quäkend von Stimme, sich mit dem süß\nfalsettierenden Tenor zu einem verlangenden Liebesduett zusammentat.\nAber als das eigentliche Talent und Haupt der Vereinigung zeigte sich\nunzweideutig der andere der Männer, Inhaber der Guitarre und im\nCharakter eine Art Baryton-Buffo, fast ohne Stimme dabei, aber mimisch\nbegabt und von bemerkenswerter komischer Energie. Oftmals löste er\nsich, sein großes Instrument im Arm, von der Gruppe der anderen los\nund drang agierend gegen die Rampe vor, wo man seine Eulenspiegeleien\nmit aufmunterndem Lachen belohnte. Namentlich die Russen, in ihrem\nParterre, zeigten sich entzückt über soviel südliche Beweglichkeit und\nermutigten ihn durch Beifall und Zurufe, immer kecker und sicherer aus\nsich heraus zu gehen.\n\nAschenbach saß an der Balustrade und kühlte zuweilen die Lippen mit\neinem Gemisch aus Granatapfelsaft und Soda, das vor ihm rubinrot im\nGlase funkelte. Seine Nerven nahmen die dudelnden Klänge, die vulgären\nund schmachtenden Melodien begierig auf, denn die Leidenschaft lähmt\nden wählerischen Sinn und läßt sich allen Ernstes mit Reizen ein,\nwelche die Nüchternheit humoristisch aufnehmen oder unwillig ablehnen\nwürde. Seine Züge waren durch die Sprünge des Gauklers zu einem fix\ngewordenen und schon schmerzenden Lächeln verrenkt. Er saß lässig da,\nwährend eine äußerste Aufmerksamkeit sein Inneres spannte, denn sechs\nSchritte von ihm lehnte Tadzio am Steingeländer.\n\nEr stand dort in dem weißen Gürtelanzug, den er zuweilen zur\nHauptmahlzeit anlegte, in unvermeidlicher und anerschaffener Grazie,\nden linken Unterarm auf der Brüstung, die Füße gekreuzt, die rechte\nHand in der tragenden Hüfte, und blickte mit einem Ausdruck, der kaum\nein Lächeln, nur eine entfernte Neugier, ein höfliches Entgegennehmen\nwar, zu den Bänkelsängern hinab. Manchmal richtete er sich gerade auf\nund zog, indem er die Brust dehnte, mit einer schönen Bewegung beider\nArme den weißen Kittel durch den Ledergürtel hinunter. Manchmal aber\nauch, und der Alternde gewahrte es mit Triumph, mit einem Taumeln\nseiner Vernunft und auch mit Entsetzen, wandte er zögernd und behutsam\noder auch rasch und plötzlich, als gelte es eine Überrumpelung, den\nKopf über die linke Schulter gegen den Platz seines Liebhabers. Er\nfand nicht dessen Augen, denn eine schmähliche Besorgnis zwang den\nVerwirrten, seine Blicke ängstlich im Zaum zu halten. Im Grund der\nTerrasse saßen die Frauen, die Tadzio behüteten, und es war dahin\ngekommen, daß der Verliebte fürchten mußte, auffällig geworden und\nbeargwöhnt zu sein. Ja, mit einer Art von Erstarrung hatte er\nmehrmals, am Strande, in der Hotelhalle und auf der Piazza San Marco,\nzu bemerken gehabt, daß man Tadzio aus seiner Nähe zurückrief, ihn von\nihm fernzuhalten bedacht war--und eine furchtbare Beleidigung daraus\nentnehmen müssen, unter der sein Stolz sich in ungekannten Qualen\nwand, und welche von sich zu weisen sein Gewissen ihn hinderte.\n\nUnterdessen hatte der Guitarrist zu eigener Begleitung ein Solo\nbegonnen, einen mehrstrophigen, eben in ganz Italien florierenden\nGassenhauer, in dessen Kehrreim seine Gesellschaft jedesmal mit\nGesang und sämtlichem Musikzeug einfiel und den er auf eine\nplastisch-dramatische Art zum Vortrag zu bringen wußte. Schmächtig\ngebaut und auch von Antlitz mager und ausgemergelt, stand er,\nabgetrennt von den Seinen, den schäbigen Filz im Nacken, so daß ein\nWulst seines roten Haars unter der Krempe hervorquoll, in einer\nHaltung von frecher Bravour auf dem Kies und schleuderte zum Schollern\nder Saiten in eindringlichem Sprechgesang seine Späße zur Terrasse\nempor, indes vor produzierender Anstrengung die Adern auf seiner\nStirne schwollen. Er schien nicht venezianischen Schlages, vielmehr\nvon der Rasse der neapolitanischen Komiker, halb Zuhälter, halb\nKomödiant, brutal und verwegen, gefährlich und unterhaltend. Sein\nLied, lediglich albern dem Wortlaut nach, gewann in seinem Munde,\ndurch sein Mienenspiel, seine Körperbewegungen, seine Art, andeutend\nzu blinzeln und die Zunge schlüpfrig im Mundwinkel spielen zu lassen,\netwas Zweideutiges, unbestimmt Anstößiges. Dem weichen Kragen des\nSporthemdes, das er zu übrigens städtischer Kleidung trug, entwuchs\nsein hagerer Hals mit auffallend groß und nackt wirkendem Adamsapfel.\nSein bleiches, stumpfnäsiges Gesicht, aus dessen bartlosen Zügen\nschwer auf sein Alter zu schließen war, schien durchpflügt von\nGrimassen und Laster, und sonderbar wollten zum Grinsen seines\nbeweglichen Mundes die beiden Furchen passen, die trotzig, herrisch,\nfast wild zwischen seinen rötlichen Brauen standen. Was jedoch des\nEinsamen tiefe Achtsamkeit eigentlich auf ihn lenkte, war die\nBemerkung, daß die verdächtige Figur auch ihre eigene verdächtige\nAtmosphäre mit sich zu führen schien. Jedesmal nämlich, wenn der\nRefrain wieder einsetzte, unternahm der Sänger unter Faxen und\ngrüßendem Handschütteln einen grotesken Rundmarsch, der ihn\nunmittelbar unter Aschenbachs Platz vorüberführte, und jedesmal, wenn\ndas geschah, wehte, von seinen Kleidern, seinem Körper ausgehend, ein\nSchwaden starken Karbolgeruchs zur Terrasse empor.\n\nNach geendigtem Couplet begann er, Geld einzuziehen. Er fing bei den\nRussen an, die man bereitwillig spenden sah, und kam dann die Stufen\nherauf. So frech er sich bei der Produktion benommen, so demütig\nzeigte er sich hier oben. Katzbuckelnd, unter Kratzfüßen schlich er\nzwischen den Tischen umher, und ein Lächeln tückischer Unterwürfigkeit\nentblößte seine starken Zähne, während doch immer noch die beiden\nFurchen drohend zwischen seinen roten Brauen standen. Man musterte das\nfremdartige, seinen Unterhalt einsammelnde Wesen mit Neugier und\neinigem Abscheu, man warf mit spitzen Fingern Münzen in seinen Filz\nund hütete sich, ihn zu berühren. Die Aufhebung der physischen Distanz\nzwischen dem Komödianten und den Anständigen erzeugt, und war das\nVergnügen noch so groß, stets eine gewisse Verlegenheit. Er fühlte sie\nund suchte, sich durch Kriecherei zu entschuldigen. Er kam zu\nAschenbach und mit ihm der Geruch, über den niemand ringsum sich\nGedanken zu machen schien.\n\n»Höre!« sagte der Einsame gedämpft und fast mechanisch. »Man\ndesinfiziert Venedig. Warum?«--Der Spaßmacher antwortete heiser: »Von\nwegen der Polizei! Das ist Vorschrift, mein Herr, bei solcher Hitze\nund bei Scirocco. Der Scirocco drückt. Er ist der Gesundheit nicht\nzuträglich...« Er sprach wie verwundert darüber, daß man dergleichen\nfragen könne und demonstrierte mit der flachen Hand, wie sehr der\nScirocco drücke.--»Es ist also kein Übel in Venedig?« fragte\nAschenbach sehr leise und zwischen den Zähnen.--Die muskulösen Züge\ndes Possenreißers fielen in eine Grimasse komischer Ratlosigkeit. »Ein\nÜbel? Aber was für ein Übel? Ist der Scirocco ein Übel? Ist\nvielleicht unsere Polizei ein Übel? Sie belieben zu scherzen! Ein\nÜbel! Warum nicht gar! Eine vorbeugende Maßregel, verstehen Sie doch!\nEine polizeiliche Anordnung gegen die Wirkungen der drückenden\nWitterung...« Er gestikulierte.--»Es ist gut«, sagte Aschenbach\nwiederum kurz und leise und ließ rasch ein ungebührlich bedeutendes\nGeldstück in den Hut fallen. Dann winkte er dem Menschen mit den\nAugen, zu gehen. Er gehorchte grinsend, unter Bücklingen; aber er\nhatte noch nicht die Treppe erreicht, als zwei Hotelangestellte sich\nauf ihn warfen und ihn, ihre Gesichter dicht an dem seinen, in ein\ngeflüstertes Kreuzverhör nahmen. Er zuckte die Achseln, er gab\nBeteuerungen, er schwor, verschwiegen gewesen zu sein; man sah es.\nEntlassen, kehrte er in den Garten zurück, und, nach einer kurzen\nVerabredung mit den Seinen unter der Bogenlampe, trat er zu einem\nDank-und Abschiedsliede noch einmal vor.\n\nEs war ein Lied, das jemals gehört zu haben der Einsame sich nicht\nerinnerte; ein dreister Schlager in unverständlichem Dialekt und\nausgestattet mit einem Lach-Refrain, in den die Bande regelmäßig aus\nvollem Halse einfiel. Es hörten hierbei sowohl die Worte wie auch die\nBegleitung der Instrumente auf, und nichts blieb übrig als ein\nrhythmisch irgendwie geordnetes, aber sehr natürlich behandeltes\nLachen, das namentlich der Solist mit großem Talent zu täuschendster\nLebendigkeit zu gestalten wußte. Er hatte bei wiederhergestelltem\nkünstlerischen Abstand zwischen ihm und den Herrschaften seine ganze\nFrechheit wiedergefunden, und sein Kunstlachen, unverschämt zur\nTerrasse emporgesandt, war Hohngelächter. Schon gegen das Ende des\nartikulierten Teiles der Strophe schien er mit einem unwiderstehlichen\nKitzel zu kämpfen. Er schluchzte, seine Stimme schwankte, er preßte\ndie Hand gegen den Mund, er verzog die Schultern, und im gegebenen\nAugenblick brach, heulte und platzte das unbändige Lachen aus ihm\nhervor, mit solcher Wahrheit, daß es ansteckend wirkte und sich den\nZuhörern mitteilte, daß auch auf der Terrasse eine gegenstandslose und\nnur von sich selbst lebende Heiterkeit um sich griff. Dies aber eben\nschien des Sängers Ausgelassenheit zu verdoppeln. Er beugte die Knie,\ner schlug die Schenkel, er hielt sich die Seiten, er wollte sich\nausschütten, er lachte nicht mehr, er schrie; er wies mit dem Finger\nhinauf, als gäbe es nichts Komischeres, als die lachende Gesellschaft\ndort oben, und endlich lachte dann alles im Garten und auf der\nVeranda, bis zu den Kellnern, Liftboys und Hausdienern in den Türen.\n\nAschenbach ruhte nicht mehr im Stuhl, er saß aufgerichtet wie zum\nVersuche der Abwehr oder der Flucht. Aber das Gelächter, der\nheraufwehende Hospitalgeruch und die Nähe des Schönen verwoben sich\nihm zu einem Traumbann, der unzerreißbar und unentrinnbar sein Haupt,\nseinen Sinn umfangen hielt. In der allgemeinen Bewegung und\nZerstreuung wagte er es, zu Tadzio hinüberzublicken, und indem er es\ntat, durfte er bemerken, daß der Schöne, in Erwiderung seines Blickes\nebenfalls ernst blieb, ganz so, als richte er Verhalten und Miene nach\nder des Anderen und als vermöge die allgemeine Stimmung nichts über\nihn, da jener sich ihr entzog. Diese kindliche und beziehungsvolle\nFolgsamkeit hatte etwas so Entwaffnendes, Überwältigendes, daß der\nGrauhaarige sich mit Mühe enthielt, sein Gesicht in den Händen zu\nverbergen. Auch hatte es ihm geschienen, als bedeute Tadzios\ngelegentliches Sichaufrichten und Aufatmen ein Seufzen, eine\nBeklemmung der Brust. »Er ist kränklich, er wird wahrscheinlich nicht\nalt werden«, dachte er wiederum mit jener Sachlichkeit, zu welcher\nRausch und Sehnsucht bisweilen sich sonderbar emanzipieren, und reine\nFürsorge zugleich mit einer ausschweifenden Genugtuung erfüllte sein\nHerz.\n\nDie Venezianer unterdessen hatten geendigt und zogen ab. Beifall\nbegleitete sie, und ihr Anführer versäumte nicht, noch seinen Abgang\nmit Spaßen auszuschmücken. Seine Kratzfüße, seine Kußhände wurden\nbelacht, und er verdoppelte sie daher. Als die Seinen schon draußen\nwaren, tat er noch, als renne er rückwärts empfindlich gegen einen\nLampenmast und schlich scheinbar krumm vor Schmerzen zur Pforte. Dort\nendlich warf er auf einmal die Maske des komischen Pechvogels ab,\nrichtete sich, ja schnellte elastisch auf, bleckte den Gästen auf der\nTerrasse frech die Zunge heraus und schlüpfte ins Dunkel. Die\nBadegesellschaft verlor sich; Tadzio stand längst nicht mehr an der\nBalustrade. Aber der Einsame saß noch lange, zum Befremden der\nKellner, bei dem Rest seines Granatapfelgetränkes an seinem Tischchen.\nDie Nacht schritt vor, die Zeit zerfiel. Im Hause seiner Eltern, vor\nvielen Jahren, hatte es eine Sanduhr gegeben,--er sah das gebrechliche\nund bedeutende Gerätchen auf einmal wieder, als stünde es vor ihm.\nLautlos und fein rann der rostrot gefärbte Sand durch die gläserne\nEnge, und da er in der oberen Höhlung zur Neige ging, hatte sich dort\nein kleiner, reißender Strudel gebildet.\n\nSchon am folgenden Tage, nachmittags, tat der Starrsinnige einen neuen\nSchritt zur Versuchung der Außenwelt und diesmal mit allem möglichen\nErfolge. Er trat nämlich vom Markusplatz in das dort gelegene\nenglische Reisebureau, und nachdem er an der Kasse einiges Geld\ngewechselt, richtete er mit der Miene des mißtrauischen Fremden an den\nihn bedienenden Clerk seine fatale Frage. Es war ein wollig\ngekleideter Brite, noch jung, mit in der Mitte geteiltem Haar, nahe\nbei einander liegenden Augen und von jener gesetzten Loyalität des\nWesens, die im spitzbübisch behenden Süden so fremd, so merkwürdig\nanmutet. Er fing an: »Kein Grund zur Besorgnis, Sir. Eine Maßregel\nohne ernste Bedeutung. Solche Anordnungen werden häufig getroffen,\num gesundheitsschädlichen Wirkungen der Hitze und des Scirocco\nvorzubeugen...« Aber seine blauen Augen aufschlagend, begegnete er dem\nBlicke des Fremden, einem müden und etwas traurigen Blick, der mit\nleichter Verachtung auf seine Lippen gerichtet war. Da errötete der\nEngländer. »Dies ist«, fuhr er halblaut und in einiger Bewegung fort,\n»die amtliche Erklärung, auf der zu bestehen man hier für gut\nbefindet. Ich werde Ihnen sagen, daß noch etwas anderes dahinter\nsteckt.« Und dann sagte er in seiner redlichen und bequemen Sprache\ndie Wahrheit.\n\nSeit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte\nNeigung zur Ausbreitung und Wanderung an den Tag gelegt. Erzeugt aus\nden warmen Morästen des Ganges-Deltas, aufgestiegen mit dem\nmephitischen Odem jener üppig-untauglichen, von Menschen gemiedenen\nUrwelt-und Inselwildnis, in deren Bambusdickichten der Tiger kauert,\nhatte die Seuche in ganz Hindustan andauernd und ungewöhnlich heftig\ngewütet, hatte östlich nach China, westlich nach Afghanistan und\nPersien übergegriffen und, den Hauptstraßen des Karawanenverkehrs\nfolgend, ihre Schrecken bis Astrachan, ja selbst bis Moskau getragen.\nAber während Europa zitterte, das Gespenst möchte von dort aus und zu\nLande seinen Einzug halten, war es, von syrischen Kauffahrern übers\nMeer verschleppt, fast gleichzeitig in mehreren Mittelmeerhäfen\naufgetaucht, hatte in Toulon und Malaga sein Haupt erhoben, in Palermo\nund Neapel mehrfach seine Maske gezeigt und schien aus ganz Calabrien\nund Apulien nicht mehr weichen zu wollen. Der Norden der Halbinsel war\nverschont geblieben. Jedoch Mitte Mai dieses Jahres fand man zu\nVenedig an ein und demselben Tage die furchtbaren Vibrionen in den\nausgemergelten, schwärzlichen Leichnamen eines Schifferknechtes und\neiner Grünwarenhändlerin. Die Fälle wurden verheimlicht. Aber nach\neiner Woche waren es deren zehn, waren es zwanzig, dreißig und zwar in\nverschiedenen Quartieren. Ein Mann aus der österreichischen Provinz,\nder sich zu seinem Vergnügen einige Tage in Venedig aufgehalten,\nstarb, in sein Heimatstädtchen zurückgekehrt, unter unzweideutigen\nAnzeichen, und so kam es, daß die ersten Gerüchte von der Heimsuchung\nder Lagunenstadt in deutsche Tagesblätter gelangten. Venedigs\nObrigkeit ließ antworten, daß die Gesundheitsverhältnisse der Stadt\nnie besser gewesen seien und traf die notwendigsten Maßregeln zur\nBekämpfung. Aber wahrscheinlich waren Nahrungsmittel infiziert worden.\nGemüse, Fleisch oder Milch, denn geleugnet und vertuscht, fraß das\nSterben in der Enge der Gäßchen um sich, und die vorzeitig\neingefallene Sommerhitze, welche das Wasser der Kanäle laulich\nerwärmte, war der Verbreitung besonders günstig. Ja, es schien, als ob\ndie Seuche eine Neubelebung ihrer Kräfte erfahren, als ob die\nTenazität und Fruchtbarkeit ihrer Erreger sich verdoppelt hätte. Fälle\nder Genesung waren sehr selten; achtzig vom Hundert der Befallenen\nstarben und zwar auf entsetzliche Weise, denn das Übel trat mit\näußerster Wildheit auf und zeigte häufig jene gefährlichste Form,\nwelche »die trockene« benannt ist. Hierbei vermochte der Körper das\naus den Blutgefäßen massenhaft abgesonderte Wasser nicht einmal\nauszutreiben. Binnen wenigen Stunden verdorrte der Kranke und\nerstickte am pechartig zähe gewordenen Blut unter Krämpfen und\nheiseren Klagen. Wohl ihm, wenn, was zuweilen geschah, der Ausbruch\nnach leichtem Übelbefinden in Gestalt einer tiefen Ohnmacht erfolgte,\naus der er nicht mehr oder kaum noch erwachte. Anfang Juni füllten\nsich in der Stille die Isolierbaracken des Ospedale civico, in den\nbeiden Waisenhäusern begann es an Platz zu mangeln, und ein\nschauerlich reger Verkehr herrschte zwischen dem Kai der neuen\nFundamente und San Michele, der Friedhofsinsel. Aber die Furcht vor\nallgemeiner Schädigung, die Rücksicht auf die kürzlich eröffnete\nGemäldeausstellung in den öffentlichen Gärten, auf die gewaltigen\nAusfälle, von denen im Falle der Panik und des Verrufes die Hotels,\ndie Geschäfte, das ganze vielfältige Fremdengewerbe bedroht waren,\nzeigte sich mächtiger in der Stadt als Wahrheitsliebe und Achtung vor\ninternationalen Abmachungen; sie vermochte die Behörde, ihre Politik\ndes Verschweigens und des Ableugnens hartnäckig aufrecht zu erhalten.\nDer oberste Medizinalbeamte Venedigs, ein verdienter Mann, war\nentrüstet von seinem Posten zurückgetreten und unter der Hand durch\neine gefügigere Persönlichkeit ersetzt worden. Das Volk wußte das; und\ndie Korruption der Oberen zusammen mit der herrschenden Unsicherheit,\ndem Ausnahmezustand, in welchen der umgehende Tod die Stadt versetzte,\nbrachte eine gewisse Entsittlichung der unteren Schichten hervor, eine\nErmutigung lichtscheuer und antisozialer Triebe, die sich in\nUnmäßigkeit, Schamlosigkeit und wachsender Kriminalität bekundete.\nGegen die Regel bemerkte man abends viele Betrunkene; bösartiges\nGesindel machte, so hieß es, nachts die Straßen unsicher; räuberische\nAnfälle und selbst Mordtaten wiederholten sich, denn schon zweimal\nhatte sich erwiesen, daß angeblich der Seuche zum Opfer gefallene\nPersonen vielmehr von ihren eigenen Anverwandten mit Gift aus dem\nLeben geräumt worden waren; und die gewerbsmäßige Liederlichkeit nahm\naufdringliche und ausschweifende Formen an, wie sie sonst hier nicht\nbekannt und nur im Süden des Landes und im Orient zu Hause gewesen\nwaren.\n\nVon diesen Dingen sprach der Engländer das Entscheidende aus. »Sie\ntäten gut«, schloß er, »lieber heute als morgen zu reisen. Länger, als\nein paar Tage noch, kann die Verhängung der Sperre kaum auf sich\nwarten lassen.«--»Danke Ihnen«, sagte Aschenbach und verließ das Amt.\n\nDer Platz lag in sonnenloser Schwüle. Unwissende Fremde saßen vor den\nCafés oder standen, ganz von Tauben bedeckt, vor der Kirche und sahen\nzu, wie die Tiere, wimmelnd, flügelschlagend, einander verdrängend,\nnach den in hohlen Händen dargebotenen Maiskörnern pickten. In\nfiebriger Erregung, triumphierend im Besitze der Wahrheit, einen\nGeschmack von Ekel dabei auf der Zunge und ein phantastisches Grauen\nim Herzen, schritt der Einsame die Fliesen des Prachthofes auf und\nnieder. Er erwog eine reinigende und anständige Handlung. Er konnte\nheute Abend nach dem Diner der perlengeschmückten Frau sich nähern und\nzu ihr sprechen, was er wörtlich entwarf: »Gestatten Sie dem Fremden,\nMadame, Ihnen mit einem Rat, einer Warnung zu dienen, die der\nEigennutz Ihnen vorenthält. Reisen Sie ab, sogleich, mit Tadzio und\nIhren Töchtern! Venedig ist verseucht.« Er konnte dann dem Werkzeug\neiner höhnischen Gottheit zum Abschied die Hand aufs Haupt legen, sich\nwegwenden und diesem Sumpfe entfliehen. Aber er fühlte zugleich, daß\ner unendlich weit entfernt war, einen solchen Schritt im Ernste zu\nwollen. Er würde ihn zurückführen, würde ihn sich selber wiedergeben;\naber wer außer sich ist, verabscheut nichts mehr, als wieder in sich\nzu gehen. Er erinnerte sich eines weißen Bauwerks, geschmückt mit\nabendlich gleißenden Inschriften, in deren durchscheinender Mystik das\nAuge seines Geistes sich verloren hatte; jener seltsamen\nWandrergestalt sodann, die dem Alternden schweifende\nJünglingssehnsucht ins Weite und Fremde erweckt hatte; und der Gedanke\nan Heimkehr, an Besonnenheit, Nüchternheit, Mühsal und Meisterschaft,\nwiderte ihn in solchem Maße, daß sein Gesicht sich zum Ausdruck\nphysischer Übelkeit verzerrte. »Man soll schweigen!« flüsterte er\nheftig. Und: »Ich werde schweigen!« Das Bewußtsein seiner\nMitwisserschaft, seiner Mitschuld berauschte ihn, wie geringe Mengen\nWeines ein müdes Hirn berauschen. Das Bild der heimgesuchten und\nverwahrlosten Stadt, wüst seinem Geiste vorschwebend, entzündete in\nihm Hoffnungen, unsagbar, die Vernunft überschreitend, und von\nungeheuerlicher Süßigkeit. Was war ihm das zarte Glück, von dem er\nvorhin einen Augenblick geträumt, verglichen mit diesen Erwartungen?\nWas galt ihm noch Kunst und Tugend gegenüber den Vorteilen des Chaos?\nEr schwieg und blieb.\n\nIn dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum,--wenn man als Traum\nein körperhaft-geistiges Erlebnis bezeichnen kann, das ihm zwar im\ntiefsten Schlaf und in völligster Unabhängigkeit und sinnlicher\nGegenwart widerfuhr, aber ohne daß er sich außer den Geschehnissen im\nRaume wandelnd und anwesend sah; sondern ihr Schauplatz war vielmehr\nseine Seele selbst, und sie brachen von außen herein, seinen\nWiderstand--einen tiefen und geistigen Widerstand--gewalttätig\nniederwerfend, gingen hindurch und ließen seine Existenz, ließen die\nKultur seines Lebens verheert, vernichtet zurück.\n\nAngst war der Anfang, Angst und Lust und eine entsetzte Neugier nach\ndem, was kommen wollte. Nacht herrschte, und seine Sinne lauschten;\ndenn weither näherte sich Getümmel, Getöse, ein Gemisch von Lärm:\nRasseln, Schmettern und dumpfes Donnern, schrilles Jauchzen dazu und\nein bestimmtes Geheul im gezogenen u-Laut, alles durchsetzt und\ngrauenhaft süß übertönt von tief girrendem, ruchlos beharrlichen\nFlötenspiel, welches auf schamlos zudringende Art die Eingeweide\nbezauberte. Aber er wußte ein Wort, dunkel, doch das benennend was\nkam: »_Der fremde Gott!_« Qualmige Glut glomm auf: da erkannte er\nBergland, ähnlich dem um sein Sommerhaus. Und in zerrissenem Licht,\nvon bewaldeter Höhe, zwischen Stämmen und moosigen Felstrümmern wälzte\nes sich und stürzte wirbelnd herab: Menschen, Tiere, ein Schwarm, eine\ntobende Rotte, und überschwemmte die Halde mit Leibern, Flammen,\nTumult und taumelndem Rundtanz. Weiber, strauchelnd über zu\nlange Fellgewänder, die ihnen vom Gürtel hingen, schüttelten\nSchellentrommeln über ihren stöhnend zurückgeworfenen Häuptern,\nschwangen stiebende Fackelbrände und nackte Dolche, hielten züngelnde\nSchlangen in der Mitte des Leibes erfaßt oder trugen schreiend ihre\nBrüste in beiden Händen. Männer, Hörner über den Stirnen, mit Pelzwerk\ngeschürzt und zottig von Haut, beugten die Nacken und hoben Arme und\nSchenkel, ließen eherne Becken erdröhnen und schlugen wütend auf\nPauken, während glatte Knaben mit umlaubten Stäben Böcke stachelten,\nan deren Hörner sie sich klammerten und von deren Sprüngen sie sich\njauchzend schleifen ließen. Und die Begeisterten heulten den Ruf aus\nweichen Mitlauten und gezogenem u-Ruf am Ende, süß und wild zugleich,\nwie kein jemals erhörter: hier klang er auf, in die Lüfte geröhrt, wie\nvon Hirschen, und dort gab man ihn wieder, vielstimmig, in wüstem\nTriumph, hetzte einander damit zum Tanz und Schleudern der Glieder und\nließ ihn niemals verstummen. Aber alles durchdrang und beherrschte der\ntiefe, lockende Flötenton. Lockte er nicht auch ihn, den widerstrebend\nErlebenden, schamlos beharrlich zum Fest und Unmaß des äußersten\nOpfers? Groß war sein Abscheu, groß seine Furcht, redlich sein Wille,\nbis zuletzt das Seine zu schützen gegen den Fremden, den Feind des\ngefaßten und würdigen Geistes. Aber der Lärm, das Geheul, vervielfacht\nvon hallender Bergwand, wuchs, nahm Überhand, schwoll zu hinreißendem\nWahnsinn. Dünste bedrängten den Sinn, der beizende Ruch der Böcke,\nWitterung keuchender Leiber und ein Hauch wie von faulenden Wassern,\ndazu ein anderer noch, vertraut: nach Wunden und umlaufender\nKrankheit. Mit den Paukenschlägen dröhnte sein Herz, sein Gehirn\nkreiste, Wut ergriff ihn, Verblendung, betäubende Wollust, und seine\nSeele begehrte, sich anzuschließen dem Reigen des Gottes. Das obszöne\nSymbol, riesig, aus Holz, ward enthüllt und erhöht: da heulten sie\nzügelloser die Losung. Schaum vor den Lippen tobten sie, reizten\neinander mit geilen Gebärden und buhlenden Händen, lachend und\nächzend,--stießen die Stachelstäbe einander ins Fleisch und leckten\ndas Blut von den Gliedern. Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende\nnun und dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst, als sie\nreißend und mordend sich auf die Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen\nverschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung\nbegann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und\nRaserei des Unterganges.\n\nAus diesem Traum erwachte der Heimgesuchte entnervt, zerrüttet und\nkraftlos dem Dämon verfallen. Er scheute nicht mehr die beobachtenden\nBlicke der Menschen; ob er sich ihrem Verdacht aussetze, kümmerte\nihn nicht. Auch flohen sie ja, reisten ab; zahlreiche Strandhütten\nstanden leer, die Besetzung des Speisesaals wies größere Lücken auf,\nund in der Stadt sah man selten noch einen Fremden. Die Wahrheit\nschien durchgesickert, die Panik, trotz zähen Zusammenhaltens der\nInteressenten, nicht länger hintanzuhalten. Aber die Frau im\nPerlenschmuck blieb mit den Ihren, sei es, weil die Gerüchte nicht zu\nihr drangen, oder weil sie zu stolz und furchtlos war, um ihnen zu\nweichen: Tadzio blieb; und jenem, in seiner Umfangenheit, war es\nzuweilen, als könne Flucht und Tod alles störende Leben in der Runde\nentfernen und er allein mit dem Schönen auf dieser Insel\nzurückbleiben,--ja, wenn vormittags am Meere sein Blick schwer,\nunverantwortlich, unverwandt auf dem Begehrten ruhte, wenn er bei\nsinkendem Tage durch Gassen, in denen verheimlichterweise das ekle\nSterben umging, ihm unwürdig nachfolgte, so schien das Ungeheuerliche\nihm aussichtsreich und hinfällig das Sittengesetz.\n\nWie irgend ein Liebender wünschte er, zu gefallen und empfand bittere\nAngst, daß es nicht möglich sein möchte. Er fügte seinem Anzüge\njugendlich aufheiternde Einzelheiten hinzu, er legte Edelsteine an und\nbenutzte Parfüms, er brauchte mehrmals am Tage viel Zeit für seine\nToilette und kam geschmückt, erregt und gespannt zu Tische. Angesichts\nder süßen Jugend, die es ihm angetan, ekelte ihn sein alternder Leib,\nder Anblick seines grauen Haares, seiner scharfen Gesichtszüge stürzte\nihn in Scham und Hoffnungslosigkeit. Es trieb ihn, sich körperlich zu\nerquicken und wiederherzustellen; er besuchte häufig den Coiffeur des\nHauses.\n\nIm Frisiermantel, unter den pflegenden Händen des Schwätzers im Stuhle\nzurückgelehnt, betrachtete er gequälten Blickes sein Spiegelbild.\n\n»Grau«, sagte er mit verzerrtem Munde.\n\n»Ein wenig«, antwortete der Mensch. »Nämlich durch Schuld einer\nkleinen Vernachlässigung, einer Indifferenz in äußerlichen Dingen,\ndie bei bedeutenden Personen begreiflich ist, die man aber doch\nnicht unbedingt loben kann und zwar umso weniger, als gerade solchen\nPersonen Vorurteile in Sachen des Natürlichen oder Künstlichen wenig\nangemessen sind. Würde sich die Sittenstrenge gewisser Leute gegenüber\nder kosmetischen Kunst logischerweise auch auf ihre Zähne erstrecken,\nso würden sie nicht wenig Anstoß erregen. Schließlich sind wir so alt,\nwie unser Geist, unser Herz sich fühlen, und graues Haar bedeutet\nunter Umständen eine wirklichere Unwahrheit, als die verschmähte\nKorrektur bedeuten würde. In Ihrem Falle, mein Herr, hat man ein Recht\nauf seine natürliche Haarfarbe. Sie erlauben mir, Ihnen die Ihrige\neinfach zurückzugeben?«\n\n»Wie das?« fragte Aschenbach.\n\nDa wusch der Beredte das Haar des Gastes mit zweierlei Wasser, einem\nklaren und einem dunklen, und es war schwarz wie in jungen Jahren. Er\nbog es hierauf mit der Brennscheere in weiche Lagen, trat rückwärts\nund musterte das behandelte Haupt.\n\n»Es wäre nun nur noch«, sagte er, »die Gesichtshaut ein wenig\naufzufrischen.«\n\nUnd wie jemand, der nicht enden, sich nicht genug tun kann, ging er\nmit immer neu belebter Geschäftigkeit von einer Hantierung zur anderen\nüber. Aschenbach, bequem ruhend, der Abwehr nicht fähig, hoffnungsvoll\nerregt vielmehr von dem, was geschah, sah im Glase seine Brauen sich\nentschiedener und ebenmäßiger wölben, den Schnitt seiner Augen sich\nverlängern, ihren Glanz durch eine leichte Untermalung des Lides sich\nheben, sah weiter unten, wo die Haut bräunlich-ledern gewesen, weich\naufgetragen, ein zartes Karmin erwachen, seine Lippen, blutarm soeben\nnoch, himbeerfarben schwellen, die Furchen der Wangen, des Mundes, die\nRunzeln der Augen unter Crème und Jugendhauch verschwinden,--erblickte\nmit Herzklopfen einen blühenden Jüngling. Der Kosmetiker gab sich\nendlich zufrieden, indem er nach Art solcher Leute dem, den er bedient\nhatte, mit kriechender Höflichkeit dankte. »Eine unbedeutende\nNachhilfe«, sagte er, indem er eine letzte Hand an Aschenbachs Äußeres\nlegte. »Nun kann der Herr sich unbedenklich verlieben.« Der Berückte\nging, traumglücklich, verwirrt und furchtsam. Seine Krawatte war rot,\nsein breitschattender Strohhut mit einem mehrfarbigen Bande umwunden.\n\nLauwarmer Sturmwind war aufgekommen; es regnete selten und spärlich,\naber die Luft war feucht, dick und von Fäulnisdünsten erfüllt.\nFlattern, Klatschen und Sausen umgab das Gehör, und dem unter der\nSchminke Fiebernden schienen Windgeister üblen Geschlechts im Raume\nihr Wesen zu treiben, unholdes Gevögel des Meeres, das des\nVerurteilten Mahl zerwühlt, zernagt und mit Unrat schändet. Denn die\nSchwüle wehrte der Eßlust, und die Vorstellung drängte sich auf, daß\ndie Speisen mit Ansteckungsstoffen vergiftet seien.\n\nAuf den Spuren des Schönen hatte Aschenbach sich eines Nachmittags in\ndas innere Gewirr der kranken Stadt vertieft. Mit versagendem\nOrtssinn, da die Gäßchen, Gewässer, Brücken und Plätzchen des\nLabyrinthes zu sehr einander gleichen, auch der Himmelsgegenden nicht\nmehr sicher, war er durchaus darauf bedacht, das sehnlich verfolgte\nBild nicht aus den Augen zu verlieren, und zu schmählicher\nBehutsamkeit genötigt, an Mauern gedrückt, hinter dem Rücken\nVorangehender Schutz suchend, ward er sich lange nicht der Müdigkeit,\nder Erschöpfung bewußt, welche Gefühl und immerwährende Spannung\nseinem Körper, seinem Geiste zugefügt hatten. Tadzio ging hinter den\nSeinen, er ließ der Pflegerin und den nonnenähnlichen Schwestern in\nder Enge gewöhnlich den Vortritt, und einzeln schlendernd wandte er\nzuweilen das Haupt, um sich über die Schulter hinweg der Gefolgschaft\nseines Liebhabers mit einem Blick seiner eigentümlich dämmergrauen\nAugen zu versichern. Er sah ihn, und er verriet ihn nicht. Berauscht\nvon dieser Erkenntnis, von diesen Augen vorwärts gelockt, am\nNarrenseile geleitet von der Passion, stahl der Verliebte sich seiner\nunziemlichen Hoffnung nach--und sah sich schließlich dennoch um ihren\nAnblick betrogen. Die Polen hatten eine kurz gewölbte Brücke\nüberschritten, die Höhe des Bogens verbarg sie dem Nachfolgenden, und\nseinerseits hinaufgelangt, entdeckte er sie nicht mehr. Er forschte\nnach ihnen in drei Richtungen, geradeaus und nach beiden Seiten den\nschmalen und schmutzigen Quai entlang, vergebens. Entnervung,\nHinfälligkeit nötigten ihn endlich, vom Suchen abzulassen.\n\nSein Kopf brannte, sein Körper war mit klebrigem Schweiß bedeckt, sein\nGenick zitterte, ein nicht mehr erträglicher Durst peinigte ihn, er\nsah sich nach irgendwelcher, nach augenblicklicher Labung um. Vor\neinem kleinen Gemüseladen kaufte er einige Früchte, Erdbeeren,\nüberreife und weiche Ware und aß im Gehen davon. Ein kleiner Platz,\nverlassen, verwunschen anmutend, öffnete sich vor ihm, er erkannte\nihn, es war hier gewesen, wo er vor Wochen den vereitelten Fluchtplan\ngefaßt hatte. Auf den Stufen der Zisterne, inmitten des Ortes, ließ er\nsich niedersinken und lehnte den Kopf an das steinerne Rund. Es war\nstill, Gras wuchs zwischen dem Pflaster. Abfälle lagen umher. Unter\nden verwitterten, unregelmäßig hohen Häusern in der Runde erschien\neines palastartig, mit Spitzbogenfenstern, hinter denen die Leere\nwohnte, und kleinen Löwenbalkonen. Im Erdgeschoß eines anderen befand\nsich eine Apotheke. Warme Windstöße brachten zuweilen Karbolgeruch.\n\nEr saß dort, der Meister, der würdig gewordene Künstler, der Autor des\n»Elenden«, der in so vorbildlich reiner Form dem Zigeunertum und der\ntrüben Tiefe abgesagt, dem Abgrunde die Sympathie gekündigt und das\nVerworfene verworfen hatte, der Hochgestiegene, der, Überwinder seines\nWissens und aller Ironie entwachsen, in die Verbindlichkeiten des\nMassenzutrauens sich gewöhnt hatte, er, dessen Ruhm amtlich, dessen\nName geadelt war und an dessen Styl die Knaben sich zu bilden\nangehalten wurden,--er saß dort, seine Lider waren geschlossen, nur\nzuweilen glitt, rasch sich wieder verbergend, ein spöttischer und\nbetretener Blick seitlich darunter hervor, und seine schlaffen Lippen,\nkosmetisch aufgehöht, bildeten einzelne Worte aus von dem, was sein\nhalb schlummerndes Hirn an seltsamer Traumlogik hervorbrachte.\n\n»Denn die Schönheit, Phaidros, merke das wohl! nur die Schönheit ist\ngöttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie denn also des\nSinnlichen Weg, ist, kleiner Phaidros, der Weg des Künstlers zum\nGeiste. Glaubst du nun aber, mein Lieber, daß derjenige jemals\nWeisheit und wahre Manneswürde gewinnen könne, für den der Weg zum\nGeistigen durch die Sinne führt? Oder glaubst du vielmehr (ich stelle\ndir die Entscheidung frei), daß dies ein gefährlich-lieblicher Weg\nsei, wahrhaft ein Irr-und Sündenweg, der mit Notwendigkeit in die Irre\nleitet? Denn du mußt wissen, daß wir Dichter den Weg der Schönheit\nnicht gehen können, ohne daß Eros sich zugesellt und sich zum Führer\naufwirft; ja, mögen wir auch Helden auf unsere Art und züchtige\nKriegsleute sein, so sind wir wie Weiber, denn Leidenschaft ist unsere\nErhebung, und unsere Sehnsucht muß Liebe bleiben,--das ist unsere Lust\nund unsere Schande. Siehst du nun wohl, daß wir Dichter nicht weise\nnoch würdig sein können? Daß wir notwendig in die Irre gehen,\nnotwendig liederlich und Abenteurer des Gefühles bleiben? Die\nMeisterhaltung unseres Styls ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und\nEhrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst\nlächerlich, Volks-und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu\nverbietendes Unternehmen. Denn wie sollte wohl der zum Erzieher\ntaugen, dem eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde\neingeboren ist? Wir möchten ihn wohl verleugnen und Würde gewinnen,\naber wie wir uns auch wenden mögen, er zieht uns an. So sagen wir etwa\nder auflösenden Erkenntnis ab, denn die Erkenntnis, Phaidros, hat\nkeine Würde und Strenge: sie ist wissend, verstehend, verzeihend, ohne\nHaltung und Form; sie hat Sympathie mit dem Abgrund, sie ist der\nAbgrund. Diese also verwerfen wir mit Entschlossenheit, und fortan\ngilt unser Trachten einzig der Schönheit, das will sagen der\nEinfachheit, Größe und neuen Strenge, der zweiten Unbefangenheit und\nder Form. Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch\nund zur Begierde, führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem\nGefühlsfrevel, den seine eigene schöne Strenge als infam verwirft,\nführen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich,\nführen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir\nvermögen nur auszuschweifen. Und nun gehe ich, Phaidros, bleibe du\nhier; und erst wenn du mich nicht mehr siehst, so gehe auch du.«\n\n * * * * *\n\nEinige Tage später verließ Gustav von Aschenbach, da er sich leidend\nfühlte, das Bäder-Hotel zu späterer Morgenstunde als gewöhnlich. Er\nhatte mit gewissen, nur halb körperlichen Schwindelanfällen zu\nkämpfen, die von einer heftig aufsteigenden Angst und Ratlosigkeit\nbegleitet waren, einem Gefühl der Ausweg-und Aussichtslosigkeit, von\ndem nicht klar wurde, ob es sich auf die äußere Welt oder auf seine\neigene Existenz bezog. In der Halle bemerkte er eine große Menge zum\nTransport bereitliegenden Gepäcks, fragte einen Türhüter, wer es sei,\nder reise, und erhielt zur Antwort den polnischen Adelsnamen, dessen\ner insgeheim gewärtig gewesen war. Er empfing ihn, ohne daß seine\nverfallenen Gesichtszüge sich verändert hätten, mit jener kurzen\nHebung des Kopfes, mit der man etwas, was man nicht zu wissen\nbrauchte, beiläufig zur Kenntnis nimmt, und fragte noch: »Wann?« Man\nantwortete ihm: »Nach dem Lunch.« Er nickte und ging zum Meere.\n\nEs war unwirtlich dort. Über das weite, flache Gewässer, das den\nStrand von der ersten gestreckten Sandbank trennte, liefen kräuselnde\nSchauer von vorn nach hinten. Herbstlichkeit, Überlebtheit schien über\ndem einst so farbig belebten, nun fast verlassenen Lustorte zu liegen,\ndessen Sand nicht mehr reinlich gehalten wurde. Ein photographischer\nApparat, scheinbar herrenlos, stand auf seinem dreibeinigen Stativ am\nRande der See, und ein schwarzes Tuch, darüber gebreitet, flatterte\nklatschend im kälteren Winde.\n\nTadzio, mit drei oder vier Gespielen, die ihm geblieben waren, bewegte\nsich zur Rechten vor der Hütte der Seinen, und, eine Decke über den\nKnieen, etwa in der Mitte zwischen dem Meer und der Reihe der\nStrandhütten in seinem Liegestuhl ruhend, sah Aschenbach ihm noch\neinmal zu. Das Spiel, das unbeaufsichtigt war, denn die Frauen mochten\nmit Reisevorbereitungen beschäftigt sein, schien regellos und artete\naus. Jener Stämmige, im Gürtelanzug und mit schwarzem, pomadisiertem\nHaar, der »Jaschu« gerufen wurde, durch einen Sandwurf ins Gesicht\ngereizt und geblendet, zwang Tadzio zum Ringkampf, der rasch mit dem\nFall des schwächeren Schönen endete. Aber als ob in der\nAbschiedsstunde das dienende Gefühl des Geringeren sich in grausame\nRoheit verkehre und für eine lange Sklaverei Rache zu nehmen trachte,\nließ der Sieger auch dann noch nicht von dem Unterlegenen ab, sondern\ndrückte, auf seinem Rücken knieend, dessen Gesicht so anhaltend in den\nSand, daß Tadzio, ohnedies vom Kampf außer Atem, zu ersticken drohte.\nSeine Versuche, den Lastenden abzuschütteln, waren krampfhaft, sie\nunterblieben auf Augenblicke ganz und wiederholten sich nur noch als\nein Zucken. Entsetzt wollte Aschenbach zur Rettung aufspringen, als\nder Gewalttätige endlich sein Opfer freigab. Tadzio, sehr bleich,\nrichtete sich zur Hälfte auf und saß, auf einen Arm gestützt, mehrere\nMinuten lang unbeweglich, mit verwirrtem Haar und dunkelnden Augen.\nDann stand er vollends auf und entfernte sich langsam. Man rief ihn,\nanfänglich munter, dann bänglich und bittend; er hörte nicht. Der\nSchwarze, den Reue über seine Ausschreitung sogleich erfaßt haben\nmochte, holte ihn ein und suchte ihn zu versöhnen. Eine\nSchulterbewegung wies ihn zurück. Tadzio ging schräg hinunter zum\nWasser. Er war barfuß und trug seinen gestreiften Leinenanzug mit\nroter Schleife.\n\nAm Rande der Flut verweilte er sich, gesenkten Hauptes mit einer\nFußspitze Figuren im feuchten Sande zeichnend, und ging dann in die\nseichte Vorsee, die an ihrer tiefsten Stelle noch nicht seine Knie\nbenetzte, durchschritt sie, lässig vordringend, und gelangte zur\nSandbank. Dort stand er einen Augenblick, das Gesicht der Weite\nzugekehrt, und begann hierauf, die lange und schmale Strecke\nentblößten Grundes nach links hin langsam abzuschreiten. Vom\nFestlande geschieden durch breite Wasser, geschieden von den\nGenossen durch stolze Laune, wandelte er, eine höchst abgesonderte\nund verbindungslose Erscheinung, mit flatterndem Haar dort draußen\nim Meere, im Winde, vorm Nebelhaft-Grenzenlosen. Abermals blieb er\nzur Ausschau stehen. Und plötzlich, wie unter einer Erinnerung, einem\nImpuls, wandte er den Oberkörper, eine Hand in der Hüfte, in schöner\nDrehung aus seiner Grundpositur und blickte über die Schulter zum\nUfer. Der Schauende dort saß wie er einst gesessen, als zuerst, von\njener Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen\nbegegnet war. Sein Haupt war an der Lehne des Stuhles langsam der\nBewegung des draußen Schreitenden gefolgt; nun hob es sich, gleichsam\ndem Blicke entgegen, und sank auf die Brust, so daß seine Augen von\nunten sahen, indes sein Antlitz den schlaffen, innig versunkenen\nAusdruck tiefen Schlummers zeigte. Ihm war aber, als ob der bleiche\nund liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er,\ndie Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins\nVerheißungsvoll-Ungeheure. Und wie so oft machte er sich auf, ihm zu\nfolgen.\n\nMinuten vergingen, bis man dem seitlich im Stuhle Hinabgesunkenen zur\nHilfe eilte. Man brachte ihn auf sein Zimmer. Und noch desselben Tages\nempfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem\nTode."